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11. Abschnitt
Vom Rathausneubau bis zum Ende Alt-Reichenbachs
Bald nach dem
Kriege hatte man den Plan des Rathausneubaues,
der durch die im Jahre 1865 entdeckte
Veruntreuung städtischer Gelder eine unliebsame Verzögerung erlitten hatte, wieder
mit Nachdruck betrieben. Das altherwürdige und eindrucksreiche Gebäude war
derart baufällig geworden, dass die oberen Stockwerke bereits im Jahre 1865 geräumt und ein Teil der Amtsräume
behelfsweise in Privathäuser verlegt werden musste. Hierzu gehörte auch der
Sitzungssaal. Die Zusammenkünfte der Stadtverordneten fanden seither teils im Gasthof
„Zum deutschen Kaiser“ an der Tränkstraße (Trenkstraße), teils im Schießhaussaale statt. Am 8. März 1872 traf endlich die
Genehmigung der Regierung zum Abbruch des alten und zum Bau eines neuen Rathauses ein. Am 1. April wurde schließlich auch die Kämmerei-
und Stadtsparkasse in Privaträume verlegt.
Nun begann man
sogleich mit dem Abbruch, nachdem zuvor das historische Gebäude in mehreren wirkungsvollen
Lichtbildaufnahmen, die auch die in
einem Anbau untergebrachte Militärwache
gut erkennen lassen, der Nachwelt erhalten worden war.
Der Neubau erfolgte
nach dem Plan des Baumeisters Fellbaum,
des Schöpfers zahlreicher öffentlichen Gebäude in der Stadt. Er führte auch die
Bauarbeiten aus und förderte sie so rasch, dass bereits am 21. Juni 1873 die feierliche Grundsteinlegung
stattfinden konnte. Es wurde ein Festtag für die ganze Stadt. Nachmittags um 1 Uhr bildete sich auf dem Platz am Schießhause ein stattlicher Festzug.
Unter Vorantritt einer Militärkapelle bewegte er sich in folgender Ordnung auf
den Ring: als erste die Bürgerschützenkompagnie, hinter ihnen
die bei dem Bau beschäftigten Maurer und
Arbeitsleute mit dem sinnreich verzierten Grundstein; hieran schloffen sich
der Vertreter des beurlaubten Landrats,
das Offizierskorps des Standorts, die
Spitzen der staatlichen Behörden, die
Geistlichkeit, Magistrat und Stadtverordnete, nach ihnen die übrigen Ehrengäste, darunter die Lehrerschaft
der König-Wilhelm-Schule und der
beiden Stadtschulen, die Stadtältesten,
Bezirksvorsteher und Mitglieder der städtischen Deputationen und sonstige
Eingeladene aus der Bürgerschaft. Den Beschluss bildete die Bürgergrenadierkompagnie.
Auf dem festlich
geschmückten Bauplatz hielt der Bürgermeister
Schmalz die Festrede und verlas hiernach folgende Urkunde, welche dem Grundstein eingefügt wurde, dessen Platz
in dem zum Ratskeller führenden Gange
bestimmt war:
„Unter der gesegneten Regierung Sr. Majestät des
deutschen Kaisers und Königs von Preußen, Wilhelm I., wurde heut der Grundstein
zum Bau des neuen Rathauses an der nämlichen Stelle gelegt, wo das im Jahre
1203 durch Herzog Boleslaus Procerus erbaute und wegen Baufälligkeit im Jahre
1872 abgebrochene Rathhaus gestanden hatte. Die Grundfläche des neuen Rathhauses
erstreckt sich auch auf den Raum, wo früher das Steuer- und Wachtgebäude das
durch Kaufmann Winter geschenkte sogenannte Schwenderling-Haus und die
Schuhbänke belegen waren.
Der Abbruch der Grundmauern des alten Rathhauses
war schwierig und zeitraubend. Hierbei ergab sich, daß die Grundmauer des
stehen gebliebenen, auf Lehm und Sand gebauten, nach der Schweidnitzer- und
Trenkstraße hin aus dem Loth gewichenen Rathsthurmes nur vier Fuß tief ist,
und deshalb auf der Südseite mit Sandsteinen in Cement untermauert und durch die
Wölbung inmitten des neuen Rathskellers gesichert werden mußte. Die beiden
alten Keller unter dem westlichen Lichthofe neben dem Thurme und vor der Westfront
unter dem Marktplatz sind geblieben.
Der Neubau wird durch den Maurermeister Fellbaum
ausgeführt.
Möge in diesem Rathhause das Wohl der Gemeinde und
jedes Angehörigen wahrhaft und gerecht gefördert werden. Möge es eine dauernde
Stätte der Sittlichkeit und Eintracht, überhaupt aller Bürgertugenden sein,
insbesondere auch der Treue für unseren angestammten Landesherrn und für das
theure deutsche Vaterland!
Dieser Urkunde ist die durch die städtische
Chronik-Deputation kurz gefaßte Geschichte unserer Stadt, nebst einer
Darstellung der gegenwärtigen communalen und gewerblichen Verhältnisse derselben,
beigefügt.
Reichenbach in Schlesien, den 21. Juni 1873.
(Stadtsiegel.)
Der Magistrat. Die Stadtverordneten.“
Am Schlusse
brachte das Stadtoberhaupt ein Hoch auf den Kaiser und König Wilhelm l. aus, woraus die Nationalhymne
gesungen wurde. Außer der Urkunde wurden in den Grundstein verschlossen ein
Verzeichnis der Mitglieder der städtischen Behörden, die bereits erwähnte,
kurze Darstellung der Stadtgeschichte sowie je ein in der Festwoche
erschienenes Stück der Ortszeitungen: des „Reichenbacher
Wochenblattes“ und des „Wanderers aus
dem Eulengebirge“, des „Patriotischen
Wochenblattes für Stadt und Land“ und des „Kreisblattes“.
Bürgermeister Schmalz vollzog darauf die ersten drei Hammerschläge mit
dem Weihspruch „Weisheit im Rat, Tüchtigkeit
in der Tat, Gottesfurcht früh und spat“. Nach ihm setzten die im Festzuge genannten
Vertreter der Behörden und Bürgerschaft diesen Weiheakt fort, und manches Bedeutsame,
von Liebe und Hingabe für das Wohl der Stadt zeugende Wort wurde dabei gesprochen,
wovon zwei der sinnreichsten Aussprüche hier wiedergegeben seien.
Justizrat Haack, der Vorsteher der Stadtverordneten, begleitete
seinen Hammerschlag mit dem Wunsche: „Reich
an Einigkeit; reich an Bürgersinn, reich an Vaterlandsliebe — so mögest du
immer sein, du gute Stadt Reichenbach! Das walte Gott!“. Und der Erbauer,
Baumeister Fellbaum, fasste seinen
Weihespruch in folgende Verse:
„Der erste Schlag, er gilt dem Werke,
Dass glücklich es vollendet werd’;
Der zweite gilt dem weisen Rate,
Ihm sei das Haus ein sichrer Herd;
Der dritte gilt der Bürgerschaft,
Ihr gebe Gott stets Mut und Kraft«
Hiernach brachte er
von der Rednertribüne ein Hoch auf die städtischen Behörden sowie auf die
Unternehmer und Förderer des Baues aus, dann begab sich der Zug in das Gasthaus
„Zum goldenen Stern“, wo ein Festessen
stattfand. Bemerkenswert ist aus der Bauperiode noch, dass mit zwölfstündiger
Arbeitszeit gebaut wurde. In September 1874
war das neue Rathaus, das die
Zweckmäßigkeitsformen der damaligen „Gründerzeit“
mit einer nicht durchweg gelungenen Anlehnung an den italienischen Palaststil verbinden soll, soweit fertiggestellt, dass
einzelne Räume bezogen werden konnten. Bereits am 16. September wurde das Post-
und Telegrafenamt im südöstlichen Teil des Erdgeschosses untergebracht.
Kurze Zeit später siedelte die Kämmerei-
und Stadtsparkasse über.
Die öffentliche Einweihung fand jedoch erst am
4. April 1875 statt. Wie bei der
Grundsteinlegung fand auch bei dieser Gelegenheit ein Festzug statt. Vor dem im
Girlandenschmuck prangenden Rathausportal
übergab Baumeister Fellbaum dem Bürgermeister mit einer feierlichen
Ansprache die Schlüssel. Festessen im „Stern“,
im „Schießkretscham“ und in den „Drei Kronen“ beschlossen den Tag. An
den Kaiser gelangte ein Huldigungstelegramm
zur Absendung, worauf dieser zwei Stunden später antwortete: „Ich wünsche der Stadt Reichenbach Glück zu
ihrem heutigen Bürgerfeste und danke freundlichst für den patriotischen Zuruf.
Wilhelm“.
Leider ist die
Anbringung des in Stein ausgehauenen Stadtwappens, die von den Stadtverordneten
gewünscht wurde, unterblieben. Der Rathausbau hatte 97 500 Mark gekostet. Die erste Sitzung der Stadtväter im neuen
Saal fand schon am 14. April 1874
statt.
In die Zeit des
Rathausbaues fällt eine bedeutungsvolle Gründung: die Errichtung der städtischen
Freiwilligen Feuerwehr. Wiederholt waren
bei den letzten Bränden die schlechten Zustände, in denen sich das damalige
Feuerlöschwesen befand, unliebsam in Erscheinung getreten und hatten die öffentliche
Kritik herausgefordert. Bürgermeister
und Magistrat gaben deshalb die
Anregung zur Begründung einer freiwilligen
Wehr, die sich die ständige Übung im Löschwesen und die Verbesserung der
Löscheinrichtungen angelegen sein lassen sollte. Der Vorschlag fand den Beifall
der Stadtverordneten. Eine daraufhin am
23. Februar 1873 in dem „Stern“ einberufene Versammlung von
Männern der verschiedensten Berufsstände, vornehmlich aber aus Mitgliedern des Turnvereins, beschlossen die Gründung
einer Freiwilligen Feuerwehr. Die
Stadt beschaffte die Ausrüstung der neuen Wehr, schloss eine Versicherung gegen Unfälle im Dienst ab
und entsandte den Turnwart Adolf Strasinsky
zu einem längeren Ausbildungslehrgang nach Breslau.
Nach dessen erfolgreicher Beendigung übernahm Strasinsky als erster Brandmeister
die Ausbildung der Freiwilligen Feuerwehr
in Reichenbach. Zu diesem Zwecke wurde
neben der Klosterkirche ein
Steigerturm errichtet. An die Stelle der alten Druckspritzen traten Schlauchspritzen.
Die Tüchtigkeit der Wehr genoss bald einen Ruf in der weiten Umgegend, sodass
später die Feuerwehren von Wüstewaltersdorf
und Langenbielau ihre technischen Leiter
zur Ausbildung nach Reichenbach schickten.
Neben dem Bürgermeister Schmalz hatte
sich um die Entstehung und Entwicklung der Reichenbacher
Wehr besonders der Ratsherr Bruno
Hartmann verdient gemacht. Zwölf Jahre lang war er städtischer Bearbeiter
des Feuerlöschwesens und zugleich Vorsitzender der Wehr.
Die am 23. Mai 1873 verstorbene Kaufmannsgattin
Amalie Rummler vermachte der Stadt 15 000 Mark zur Errichtung eines katholischen Waisenhauses. In das
gleiche Jahr fällt die Gründung des Ernsdorfer
Kriegervereins, dem bald auch zahlreiche Bürger aus der Stadt beitraten.
Der Fünfte Schlesische Protestantentag führte am 18. Juni viele auswärtige Besucher in
der Stadt zusammen. Am 1. August
feierte der Landrat Olearius sein 25jähriges
Amtsjubiläum und stiftete aus diesem Anlass der König-Wilhelm-Schule ein Kapital von 3000 Mark, dessen Zinsen einem strebsamen und bedürftigen Primaner die Kosten der Ausbildung
erleichtern sollten.
Im August fanden die Herbstübungen der 21. Brigade in dem Gelände zwischen der Stadt und Bertholdsorf, Olbersdorf und
Güttmannsdorf statt. Die zahlreich erschienenen
Zuschauer genossen dabei das Schauspiel eines Wettrennens der Offiziere des Schlesischen Leibkürassier-Regiments und
des 2. Schlesischen Dragoner-Regiments,
dessen Zielpunkt der erste wilde Birnbaum am Olbersdorfer Wege war. Die sich anschließenden Divisionsmanöver fanden in der Erstürmung des Ruhberges bei Faulbrück
ihren Abschluss. Von den Industriellen des Kreises war die Wiener Weltausstellung beschickt worden. Hierbei erhielt die Firma Christian Dierig in Langenbielau die
wertvolle Fortschrittsmedaille,
während den Firmen Franz Rosenberger jun.
und J. G. Völkel & Co. in Langenbielau sowie H. Schwabe in Ernsdorf
Anerkennungsdiplome zuteil wurden. Am 31.
Oktober 1873 sah die Stadt den erstmalig zusammengetretenen Kreistag in ihren Mauern. Wieder war Fortuna
den Einwohnern hold. Im November des
Jahres fiel ein Hauptgewinn von 30 000
Mark der Preußischen Klassenlotterie
in die Lotterieinnahme des Kaufmanns August Werk. Die besonders in Peterswaldau und Schlaupitz aufgetretene Cholera
verschonte dank rechtzeitiger Vorsichtsmaßregeln die Stadt.
Mannigfache
Neuerungen traten im Verwaltungswesen des Kreises und der Städte in den
folgenden Jahren ein. Am 1. Oktober 1874
wurde das Standesamt eröffnet. Als
erster Standesbeamter war Bürgermeister
Schmalz tätig, bis später ein besonderer Beamter hierfür angestellt wurde. Im
Geldverkehr machte die Einführung der
neuen Markrechnung am 1. Januar 1875
größere Wechselgeschäfte nötig. In Reichenbach
gelangten über 240 000 Mark alter
Scheidemünzen zur Auswechselung. Von besonderer Wichtigkeit war das
Inkrafttreten der neuen Ortssatzung
über das städtische Bürgerrecht am 1.
Januar 1875. Es gab jedem selbständigen preußischen Einwohner der Stadt, der
über 24 Jahre alt war, das Recht zur Teilnahme an den Wahlen und zur Übernahme
von Ehrenämtern in der Gemeindeverwaltung und -vertretung. Abhängig war dieses
Recht von mindestens einjährigem Wohnsitz in der Stadt und von der Entrichtung
der öffentlichen Steuern. Das früher von jedem Zuziehenden zu entrichtende Anzugsgeld von 18 Mark kam in Fortfall, dagegen war nun in gleicher Höhe ein Bürgerrechtsgeld zu zahlen.
Am 1. März 1875 hatte man seitens der Stadt
auf dem Klosterplatz einen Fleischmarkt für auswärtige Metzger
eingerichtet, jedoch erfreute er sich keines regen Zuspruchs. Als die Schützengilde anlässlich ihres Maifestes an den Reichskanzler Fürst Bismarck ein Huldigungstelegramm zur Absendung brachte, traf am 11. Mai 1875 folgendes Handschreiben des
großen Staatsmannes ein:
„Der Schützengilde zu Reichenbach sage ich meinen
verbindlichsten Dank für den freundlichen Gruß vom 5. Mai.
v. Bismarck
Die Gilde bewahrt
dieses Schreiben noch heute in einem Rahmen unter Glas in ihrem neuen Heim im „Schützenhof“.
Am 23. Mai entlud sich ein schweres
Gewitter über Reichenbach. Dreimal
schlug der Blitz ein, darunter einer in die evangelische Kirche, deren Kanzel
und Altar beschädigt wurden; Feuer brach jedoch nirgend aus. Zwischen dem Bahnhof und Peterswaldau ging ein Hagelschlag
hernieder, der über 10 Zentimeter hoch
auf den Feldern lag.
Ein Teil des
früheren Tuchmacherzwingers neben dem
Tränktor (Trenktor) war von der Stadt
der jüdischen Gemeinde überlassen worden, die darauf ihre Synagoge durch Maurermeister Böttger
errichten ließ. Am 8. Juni 1875, dem
Vorabend des jüdischen Pfingstfestes,
fand die feierliche Einweihung des Tempels statt, an der sich neben den
Abgeordneten der städtischen Behörden auch zahlreiche Vertreter der anderen
Bekenntnisse beteiligten. Ratsherr Hermann
Cohn und Kaufmann Wartenberg
hatten sich für das Zustandekommen des Gotteshauses besonders verdient gemacht.
Sehenswert sind die dreiarmigen bronzenen Kandelaber beiderseits der
Bundeslade, die ein Geschenk der jüdischen Frauen sind, und der von dem Rittergutsbesitzer Joseph gestiftete 36armige
Kronleuchter.
Großer Festtrubel
herrschte am 11. Juli, an dem in Reichenbach der Mittelschlesische Kriegerverband gegründet wurde. An dem Festzuge
nahmen 25 Kriegervereine mit 1600 Personen teil. Am gleichen Tage
fand das 25. Stiftungsfest des Reichenbach-Ernsdorfer
Krieger- und Veteranenvereins statt, womit die Weihe der neuen Fahne verbunden
war.
Die Herbstübungen der 12. Division, die
zwischen Frankenstein und Reichenbach vor sich gingen und zum schlesischen
Kaisermanöver überleiteten,
bescherten der Stadt einen denkwürdigen Besuch. Am 15. September traf Kaiser
Wilhelm I. in Begleitung des Kronprinzen
Friedrich Wilhelm auf der Fahrt nach Camenz
zu kurzem Aufenthalt ein. Auf dem Bahnhof verließ der greise Herrscher auf kurze
Zeit seinen Salonwagen und nahm die Begrüßung durch die Kreis- und
Stadtbehörden entgegen, besonders erfreut durch einen reich geschmückten
Kornblumenstrauß, den ihm die Tochter des Landrats überreichte. Bei seiner
Rückfahrt am Abend erstrahlte der Bahnhof in bengalischer Beleuchtung und eine
vielköpfige Menschenmenge jubelte dem Kaiser zu, den sie zum letzten Male in
den Mauern ihrer Stadt sehen sollte.
Die Volkszählung am 1. Dezember 1875 ergab 7121
Einwohner. Der bisher abgehaltene Januar-Jahrmarkt
kam seit 1876 in Fortfall, jedoch
wurde der Viehmarkt beibehalten.
Einem schneereichen Winter, der tagelang den Bahnverkehr behinderte, folgten
eine zeitige Schneeschmelze und Hochwasser bis ins späte Frühjahr hinein. Ein
Wolkenbruch am 15. Juni 1876 führte zur
Zerstörung des Teichdammes in Habendorf und zur Ausuferung der Peile oberhalb der Stadt, wobei drei
Menschen ertranken. Bei den Bergungsarbeiten zeichnete sich die Freiwillige Feuerwehr besonders aus, die
schon im Mai ihre Ausrüstung durch einen Doppelspritzenwagen
und einen Rettungsschlauch vermehrt
hatte.
In dem
benachbarten Ernsdorf kam es am 8. September 1876 zu der Verschmelzung
der drei bisher selbständigen Gemeinden Ernsdorf-städtisch,
königlich und Klinkenhaus. Es war der letzte Schritt zu einer Entwicklung, die in
der späteren Eingemeindung in die Stadt Reichenbach ihren Abschluss
fand.
Die von Peterswaldau über Steinkunzendorf und den Gebirgskamm nach Hausdorf ausgebaute Chaussee bot seit dem 1. November 1876 den Einwohnern der Stadt eine neue Möglichkeit zum
Besuch der schönen Eulenberge und
brachte mit der Zeit viele Fremde auf ihren Wanderfahrten in die Stadt. Aber noch
mehr als fünf Jahre sollten vergehen, ehe sich die heimischen Freunde der
Bergnatur zu einer Vereinigung zusammenfanden und dadurch der Erschließung des
Gebirges neue Wege wiesen.
Im Jahre 1877 erhielt die Stadt die Aussicht auf
Verbesserung zweier für sie wichtigen Verkehrsverbindungen. Am 15. Juni beschloss nämlich der Kreistag, den Weg, der vom Bahnhof über die Ernsdorfer Steinbrücke längs der Peile bis zur Langenbielauer
Straße führte, und den Landweg nach Dreißighuben,
Hennersdorf und Költschen zu chaussieren. Mit den Arbeiten hierzu wurde bald darauf
begonnen. Am 16. August ertönte nach
einem heftigen Gewitter in den Abendstunden Feueralarm. „Der Turm der evangelischen Kirche brennt!“, hieß es. Es war jedoch
nur eine eigenartige optische Täuschung. Auf dem von der Tageshitze erwärmten
Kupferdache hatten sich nach dem Regen Wasserdämpfe entwickelt, die im Scheine
der blutrot untergehenden Sonne als aufleuchtende Flammen erschienen. Obgleich
Sachverständige den richtigen Zusammenhang erkannt hatten, blieb doch eine Brandwache der Feuerwehr während der ganzen
Nacht im Gotteshaus in Bereitschaft; erst der nächste Morgen überzeugte
jedermann von der Täuschung durch das seltsame Spiel der Natur. Ein halbes Jahr
später sollte aber die Freiwillige Feuerwehr
Gelegenheit zu rühmlichem Hervortun finden, als sie nach Langenbielau gerufen wurde, wo das Schloss lichterloh in Flammen
stand. Die Wehr bestand bei diesem großen Brande ihre Feuerprobe in bester
Weise und erhielt als Anerkennung vom Schlossbesitzer eine Belohnung von 200 Mark.
Am 3. Januar 1878 wurde der Schlachthofzwang für alle Fleischer in
der Stadt eingeführt. Von nun an mussten sie sämtliches Vieh in dem in Ernsdorf erkannten, öffentlichen Schlachthause schlachten. Der „Ernsdorfer Vorschuss- und Sparverein“, der
im Vorjahr durch Veruntreuungen eines Kassierers nahezu 45 000 Mark verloren hatte, siedelte am 1. April nach Reichenbach
über und erholte sich rasch. Unter dem Vorsitz des Kaufmanns C. H. Dyhr wurde am 23. April der „Bienenzüchterverein
für Reichenbach und Umgegend“ gegründet, dem bald eine stattliche Anzahl
von Mitgliedern beitrat.
In der hier
geschilderten Zeit entwickelte sich in Reichenbach
eine außerordentlich rege Bautätigkeit. Insbesondere taten sich als Unternehmer
hierin Kaufmann Georg Geisler, Maurermeister
Julius Schenk und Fotograf Köhler hervor. Die beiden Letztgenannten
ließen beispielsweise die Häuser an der heutigen Gartenstraße neu aufführen. An dieser Straße befand sich auch die Höhere Töchterschule. Sie war schon zu
Ostern 1863 durch ein Fräulein Elisabeth von Heune eröffnet worden. Im
August 1869 ging die Leitung an
Fräulein Ritter über. Mit der Anstalt
war ein Pensionat verbunden, das von
der Stadt durch jährliche Zuschüsse unterstützt wurde. Wiederholte Versuche, so
auch anlässlich des hundertsten Geburtstages der Königin Luise, eine städtische
Töchterschule zu gründen, schlugen aus Mangel an öffentlichen Mitteln fehl.
In Ernsdorf war die auf der heutigen Schulstraße gelegene evangelische Schule neu erbaut worden. Ihre
feierliche Einweihung erfolgte am 16.
Oktober 1878. Längs der hieran vorbeiführenden Straße erstanden in kurzer
Zeit eine Reihe von Gartenhäusern,
deren Erbauer zumeist der Maurermeister Schenk
war. Auch längs der Schweidnitzer
Chaussee hinter dem Fraegerschen Waisenhaus (Frägerschen Waisenhaus) erhoben sich neue prächtige
Wohngebäude, die Baumeister Böttcher
errichtete. Um die Niederung der „Rondell“
genannten Schanze zwischen der Frankensteiner
Straße und dem Göhligplatz (Göhlichplatz)
entspann sich zwischen den städtischen
Behörden und der Bürgerschaft ein
jahrelanger Streit. Letztere wünschte die Schanze mit ihrem von Bäumen und
Sträuchern eingefassten Promenadenwege
erhalten zu sehen und setzte es auch bei der Regierung durch, dass ein Teil der
Schanze diesem Zwecke weiterhin diente.
Das Jahr 1879 verlief ohne besonders bedeutsame
Ereignisse. Ein neues Wohltätigkeitswerk
wurde durch den Pastor Lauterbach in
dem „Augusta-Verein“ ins Leben
gerufen, den Frauen und Mädchen der Stadt angehörten; sie stellten es sich zur
Aufgabe, arme, hilflose Kranke zu pflegen und bis zu ihrer Wiedergenesung zu
betreuen. Viele Jahre hat dieser Verein, der am 11. Juni 1879, dem Tage der goldenen Hochzeit Kaiser Wilhelms l. und seiner Gemahlin Augusta gegründet wurde, segensreich gewirkt. Zu gleicher Zeit
erging ein Aufruf zur Zeichnung von Spenden für die Errichtung eines Kreis-Siechenhauses. Es kamen jedoch nur
etwa 7800 Mark zusammen, und da mit
dieser Summe der Plan nicht durchführbar war, wurde der Betrag als Grundstock
für später bei der Kasse des Kreises
niedergelegt.
Mit mehreren Hochwassern begann das Jahr 1880. Die Überflutungen richteten auch
in der Stadt viel Schaden an. Am 1. Mai
1880 gelangte die Vergnügungssteuer
zur Einführung. Fortan musste bei jeder Lustbarkeit
dieser Tribut an das Stadtsäckel entrichtet werden. Aber Wohlstand und Geld waren
in jenen Tagen in Industrie, Handel und Gewerbe reichlich vorhanden, lebte man
doch immer noch in der berüchtigten „Gründerzeit“,
in der jedermann froh war, wenn er zu bescheidenem Zinsfuß das erworbene Kapital
irgendwie nutzbringend anlegen konnte. Ständig wuchs die Summe der Einlagen bei
den Sparkassen und Bankgeschäften, ohne dass diese eine
ausreichende Zahl von Leuten fanden, die durch Aufnahme von Darlehen für einen neuen Umlauf des
Geldes sorgten. Ein goldenes Zeitalter schien anzubrechen. Allzubald sollte
freilich ein Rückschlag eintreten.
Neue Vereine zum
Nutze der Frommen und des Allgemeinwohls taten sich auf. Am 17. Juli 1880 entstand der Verein zur Förderung der Geflügelzucht für
Reichenbach und Umgegend, am 29.
November folgte ihm der Verein gegen
Hausbettelei, der diesem Unwesen durch Einordnung in die öffentliche
Wohlfahrtspflege neue Bahnen zu geben trachtete. Auch auf religiösem Gebiete
machte sich die Gründerzeit fühlbar. Die Sekte
der Irvingianer entsandte einen Prediger
namens Becker in die Stadt. Seine
Vorträge, die er anfangs in einem Hause der Tränkstraße
(Trenkstraße) hielt, fanden zahlreiche Zuhörer. Bald kam es zur Bildung einer Apostolischen Gemeinde. Seit 1883 besitzt sie an der heutigen Koslikstraße ein eigenes Bethaus, dessen Einweihung am 7. Oktober erfolgte. Die genannte
Straße ließ Fabrikbesitzer August Urbatis
anlegen, als er an ihr auf einer Anhöhe sein weithin sichtbares Gartenhaus
erbaute. Die Volkszählung am 1. Dezember 1880 ergab ein beträchtliches
Ansteigen der Bevölkerungszahl im Kreise, in dem 68 333 Einwohner gezählt wurden, ein Bestand, der nach dem Weltkrieg noch nicht wieder erreicht
worden ist. In der Stadt selbst hatte sich die Bevölkerung nur um etwa 120 Köpfe auf 7255 vermehrt. Nicht wenig scheint zu diesem Stillstand die
ungünstige Lage des Bahnhofes beigetragen zu haben, denn das benachbarte Ernsdorf rückte seine Häuserviertel
immer weiter an diesen Verkehrsknotenpunkt heran und zeigte demzufolge ein
starkes Anwachsen der Einwohnerzahl. Zu diesem Zeitpunkt wies Reichenbach 3620 männliche und 3535
weibliche Bewohner auf. Davon waren 4410
evangelisch, 2659 katholisch und 155 jüdisch. 31 Personen gehörten anderen Bekenntnissen an. Die Garnison belief sich auf etwa 200 Militärpersonen. Die Zahl der
industriellen Unternehmen war damals noch gering. Außer der Hilbertschen Dampfmühle an der Langenbielauer Straße und der Dampfmühle gegenüber dem Gasthof „Zur Stadt Berlin“ war im Jahre 1876 neben der sogenannten Tränkmühle (Trenkmühle) die Spinnerei von Reisinger erbaut worden.
Auf Ernsdorfer Gebiet gewann die Rosenbergersche Spinnfabrik an dem
Fußweg von Reichenbach nach Dreißighuben und die benachbarte Maschinenbauanstalt von Vogel erheblich
größere Ausdehnung; mit letzterer wurde später eine Eisengießerei verbunden.
Die der Stadt schon
im Jahre 1332 verliehene Braugerechtigkeit, die auf nahezu einem
Drittel der städtischen Grundstücke ruhte, mag die Ursache zu der sogar noch
heute auffälligen Tatsache sein, dass zu der hier erwähnten Zeit nicht weniger
als 52 Schanklokale in der Stadt
vorhanden waren, in denen aus 32
verschiedenen Brauereien Bier verzapft wurde. Von weither kamen Gäste in das
trinkfrohe Reichenbach, denn hier gab
es bayrisch Bier, das zuerst im „Weißen Lamm“ geschenkt und bald
allenthalben beliebt wurde. Am Schlusse des geschilderten Jahrzehnts trat
jedoch in diesem Gewerbezweig ein bedeutender Rückschlag ein; der Geschäftsgang
wurde immer flauer, und heute leben viele der damals gern besuchten Gaststätten
nur noch in der Erinnerung der älteren und ältesten Generation der Stadt fort.
Der Reichenbacher Tierschutzverein begann
seine segensreiche Tätigkeit im Jahre 1881.
Sein Gründer war der evangelische Rektor
Reimann. Der Verein begann seine Tätigkeit mit der Anbringung von Nistkästen in den städtischen Anlagen, wo
sich bald eine stattliche Zahl von Staren
niederließ. Der neu gegründete katholische Gesellenverein
hielt sein Fahnenweihfest am 12. September 1881 ab. Etwa zu gleicher
Zeit setzte der Wahlkampf für die bevorstehende Reichstagswahl mit besonderem Nachdruck ein. Noch drehte es sich
freilich nicht um jene großen innerpolitischen Auseinandersetzungen zwischen
der Regierung und dem zur Selbständigkeit erwachenden vierten Stand, sondern nur um das geplante Tabakmonopol. In dieser Frage trat der bekannte Führer der Fortschrittspartei, Eugen Richter,
einer der schärfsten Gegner der inneren Politik Bismarcks, in Reichenbach
am 25. September bei einer Wahlversammlung
in der „Sonne“ als Redner auf und sprach
vor einer Zuhörerschaft von etwa 1200
Personen. Aber auch die Anhänger der Bismarckschen
Anschauungen schlossen sich zusammen. Der Realschuldirektor, Professor Dr. Weck, gründete mit Gesinnungsfreunden
den „Neuen Wahlverein“, der die
Mitglieder der konservativen und freikonservativen Richtung umfasste. Weck war ein begeisterter Verehrer des
Kaiserhauses, dem er bei zahlreichen Gelegenheiten Huldigungen und Gedichtbände
widmete. Ihm wurden später, wohl nicht zuletzt wegen seiner politischen
Bemühungen, zahlreiche Ehrungen zuteil. Auf seine Veranlassung richtete der Wahlverein am 21. Januar 1881 in einer Adresse ein Treuegelöbnis für den Kaiser,
woraus dieser am 6. Februar in einem
längeren Schreiben seinen Dank aussprach. Kurz zuvor war der Rathaussaal mit dem
lebensgroßen Ölbildnis des greisen
Herrschers geschmückt worden.
Am 29. Mai 1882 feierte der Reichenbacher Stadtpfarrer, Erzpriester
und Geistlicher Rat Maximilian Rinke,
in Rüstigkeit seinen 80. Geburtstag. Es war seinen Verdiensten um das
einträchtige Zusammenleben der beiden christlichen Bekenntnisse angemessen, als
ihm bei dieser Gelegenheit durch die städtischen Behörden das Ehrenbürgerrecht der Stadt verliehen
wurde.
Unter den
zahlreichen Erfindungen, die aus dieser Zeit erwähnt wurden, verdient eine
wegen ihrer großen ideellen Bedeutung hier eine besondere Würdigung. Schon
immer war das nahe Gebirge mit seinen lieblichen Tälern und aussichtsreichen Höhen
von der Reichenbacher Bürgerschaft
oft und gern besucht worden. Nach der Unrast des Werktags suchte und fand man
dort Erholung und Erquickung. Aber so eng auch der Reichenbacher mit seinen heimatlichen Bergen verwachsen war, es
fehlte damals noch an der planmäßigen Erschließung all dieser Schönheiten der
Natur. Abgesehen von einigen wenigen Passstraßen
waren die Fußpfade, die zum Kamm und
von dort nach den sehenswertesten Punkten des Gebirges führten, meist recht
unwegsam und nur soweit hergerichtet, als es den Bedürfnissen der Forstverwaltungen, nicht aber den Besuchern
der Berge genügte. Es bleibt deshalb eine verdienstvolle Tat, dass sich im
Jahre 1882 einheimische Gebirgsfreunde
zusammenfanden und am 11. April den „Reichenbacher Eulengebirgsverein“ gründeten.
Diese Gründung ist nicht das Verdienst eines Einzelnen, denn sie entsprach
einem Wunsche, den die Allgemeinheit der Bürgerschaft schon seit Längerem
nährte. Am besten beweist dies die beträchtliche Mitgliederzahl, die der neue
Verein bereits im ersten Jahre seines Bestehens zählte. Mehr als 200 Personen traten ihm bei, und aus
allen Kreisen der Bevölkerung fand er Anteilnahme und tätige Förderung. Wenn in
diesem Zusammenhang nur die Namen von einigen Persönlichkeiten genannt werden,
dann geschieht es deswegen, weil sie vor allen anderen als die Bahnbrecher des
neuen gemeinnützigen Zweckes angesehen werden müssen. Zu diesen verdienstvollen
Männern gehört der Kaufmann Alexander Dittrich,
der im Verein mit dem Rektor Reimann und
dem Kaufmann Constantin Kiesel am 25. März 1882 eine Vorversammlung
einberief, in welcher die Gründung des Eulengebirgsvereins
vorbereitet wurde. In dem jungen Verein entwickelte der Realschullehrer Dr. Winkler, einer der Mitbegründer, bald eine
rastlose und weitschauende Tätigkeit. Ihm
ist es vor allen zu danken, dass sich der Verein nicht auf den Zusammenschluss
der Gebirgsfreunde beschränkte, sondern seine Ziele dahin erweiterte, das verhältnismäßig
noch unbekannte Eulengebirge dem Touristenverkehr
zu erschließen. Mit der Errichtung von Wegweisern,
der Verbesserung der Wege und ihrer fortlaufenden Kennzeichnung wurde hier in den ersten Jahren ein großes Stück
praktischer Arbeit geleistet. Um noch größere Aufgaben als diese erfüllen zu
können, musste aber die Grundlage der ganzen Bewegung wesentlich verbreitert werden.
Von Reichenbach aus wurden in der
Umgegend neue Ortsgruppen ins Leben gerufen. Man warb einflussreiche und vermögende
Gönner, und am 7. Oktober 1883 kam es
schließlich in Charlottenbrunn zur
Vereinigung aller schon bestehenden Gebirgsvereine im Eulen- und Waldenburger
Gebirge. Mit Recht kann der Reichenbacher
Eulengebirgsverein für sich das Verdienst beanspruchen, für die Erschließung
der heimischen Berge Außerordentliches geleistet zu haben, worauf im Einzelnen
stark im Verlauf der weiteren Geschichte der Stadt zurückgekommen werden wird.
Die mittelalterliche
Bauart der Innenstadt mit ihren engen Straßen und nur vier Ausgängen setzte dem
sich ständig steigernden Verkehr große Schwierigkeiten entgegen. Im Jahre 1882 schuf man hiergegen Abhilfe, indem
die Stadtmauer am Judenplan und am
Ausgange der Rudelsgasse durchbrochen
wurde. Eine Änderung der Bezeichnung „Judengasse“
in „Wilhelmsstraße“ wurde jedoch aus
historischen Gründen abgelehnt. Das von dem Kaufmann Wilhelm Winter erbaute stattliche Haus an der Ringecke der Tränkstraße (Trenkstraße), das in den
Besitz des Schlesischen Bankvereins
übergegangen war, wurde im Jahre 1882
von der Kreisverwaltung für 78 000 Mark aufgekauft und als „Kreishaus“ eingerichtet.
Seit dem Jahre 1883 besteht bei der evangelischen Kirche ein besonderes Kantorat. Als erster Kantor wurde am 11. April der begabte Kirchenmusiker Wiedemann aus Schönau
berufen. Die katholische Kirchgemeinde erwarb im gleichen Jahre eine größere
Ackerfläche zur späteren Vergrößerung des neuen Friedhofs an der Breslauer Chaussee. Die städtische
Sparkasse führte am 1. April 1883 das
Sparmarkensystem ein und errichtete in der Stadt und auf dem Lande zahlreiche
Verkaufsstellen. Schon innerhalb des ersten Jahres kamen über 4000 Mark an Spargeldern ein, wiewohl
nur 10-Pfennig-Sparmarken zur Ausgabe
gelangten. Am 18. Juni feierte die
Tischlergesellschaft ihr zweihundertjähriges Bestehen, das aber durch
Regenwetter beeinträchtigt wurde. Der Verfasser eines der bei dieser Feier gesungenen
Festliedes war der nachmals bekanntgewordene schlesische Mundartdichter Max Heinzel. Er war damals kurze Zeit
Redakteur der im Jahre 1881
gegründeten „Kleiner Bürgerzeitung“, die
dann den Titel „Schlesischer Volksbote“
erhielt. Mit diesem vereinigte sich später die neu gegründete „Reichenbacher Zeitung“, die gegenwärtig
im Verlage von Ernst Schilling
erscheint.
Der am 18. Juni eingetretene Regen hielt mit
außerordentlicher Heftigkeit mehrere Tage hindurch an. Die Peile uferte so stark aus, dass der Verkehr von der Stadt zum
Bahnhof nach Langenbielau, Peterswaldau und den Ortschaften an der Peile unterhalb von Reichenbach auf längere Zeit unterbrochen war. Der am 20. Juni 1883 an der Ernsdorfer Peilebrücke gemessene Wasserstand
war der höchste seit der Überschwemmung von 1804.
Er ist an der Brücke durch einen Gedenkstein festgelegt worden. Außerordentlich
groß war diesmal der Schaden, der den anliegenden Besitzern in der Stadt und in
Ernsdorf durch die Peile zugefügt wurde.
Die freundliche
Lage Reichenbachs machte es seit
jeher zu einem gern gewählten Ort für größere Zusammenkünfte. So hielt am 30. September 1883 auch der Schlesische Fleischerverband seinen
Vereinstag hier ab. Als Festlokal diente, wie zumeist bei solchen
Veranstaltungen, der große Saal des Gasthofes „Zur Sonne“. Zu einem Gedenktag von besonderem Ausmaß gestaltete sich
die Vierhundertjahrfeier des Geburtstages des evangelischen Reformators Martin Luther am 10. November. Schon am Vorabend prangte die Kirche in reichem
Festschmuck. Girlanden und Kränze zierten Chöre und Säulen. Die Straßen der
Stadt zeigten ein gleiches Feiertagsgewand. Glockenläuten und Choräle
erschallten abends vom Kirchturm. Am Vormittag des 10. November versammelten sich etwa 1000 Schulkinder auf dem Ringe
und zogen unter Absingung des Liedes „Ein’
feste Burg ist unser Gott“ zum Gotteshaus. Bei dem Abendgottesdienst
gewährte die Kirche im Lichterglanz von 600
Kerzen einen prachtvollen Anblick. Auch das Rathaus und die weitaus meisten
Häuser der Stadt waren an diesem Abend illuminiert. Die kirchliche Hauptfeier
fand am darauffolgenden Sonntag statt. Zu dieser begaben sich die Spitzen der Behörden, die Kirchen- und Schulvorstände,
das Offizierskorps, die Lehrerkollegien des Realgymnasiums und
der Volksschulen, der Kriegerverein
sowie eine unabsehbare Zahl von Mitgliedern
der Kirchgemeinde unter Vorantritt einer Musikkapelle in einem Festzuge vom Ringe zum Gotteshaus.
Mit dem Winter
hielten mannigfache Veranstaltungen geselliger und künstlerischer Art ihren
Einzug in die Stadt. Allgemeine Bewunderung lösten die Leistungen des als „Geigerkönig“ berühmten Violinvirtuosen Joachim aus, der im Saale des Gasthofes „Zum goldenen Stern“ am 15. Dezember ein Konzert gab. In den
Abendstunden dieses Winters erstrahlte der Himmel häufig in einer dem Nordlicht
ähnlichen, auffälligen Röte, die sich über den ganzen Horizont ausbreitete und
nach Sommeruntergang noch mehrere Stunden anhielt.
Bis zum Jahre 1884 war in einer Fabrik am Spillerberge im größerem Umfange die
Herstellung von Zigarren betrieben worden.
Die Firma geriet jedoch im Frühjahr mit 700 000
Mark in Konkurs und seitdem verschwand dieser Industriezweig fast gänzlich
aus dem Erwerbsleben Reichenbachs. Am
1. Januar ging die Papesche Buchdruckerei mit der Redaktion
und dem Verlag des heutigen „Reichenbacher
Tageblattes“, an den ehemaligen Korrektor der Breslauer Universitätsdruckerei, Hermann Dittrich, über. Vom 14.
bis 20. April veranstaltete der Breslauer
und Schlesische Gewerbeverein in der Provinzhauptstadt eine Möbelausstellung
und einen Wettbewerb der schlesischen Möbelindustrie. Hierbei erhielt die Reichenbacher Möbelfabrik von Paul Herden
den ersten Preis zuerkannt, ein Beweis dafür, dass der alte Ruf der Stadt auch
auf diesem Fabrikationsgebiet zu vollem Rechte bestand. Als am 23. Mai die Nachbarstadt Neurode von einem großen Brandunglück
heimgesucht wurde, veranstaltete man zum Besten der Abgebrannten am 8. Juni in der „Sonne“ einen Wohltätigkeitsabend, der einen Reingewinn von 375 Mark erbrachte. Diese Summe stellte
man mit anderen Gaben an Bekleidung und Lebensmitteln der Stadt Neurode zur Verfügung.
Schwere Gewitter
suchten im Juli und August den Kreis heim,
doch blieb die Stadt von Feuersbrünsten verschont. Wie schon öfter, bereitete
die Glücksgöttin auch in diesem Jahre wieder einmal mehreren Einwohnern eine freudige
Überraschung. Am 5. August fiel ein
Hauptgewinn von 90 000 Mark in die
Kollekte des Kaufmanns Schöler.
Bereits ein halbes Jahr später, am 17.
Januar 1885, wiederholte sich dieser Glückszufall, als ein Gewinn von 30 000 Mark nach Reichenbach gelangte. Ein Meisterwerk der Orgelbaukunst ist die für
die evangelische Kirche von der Firma Schlag
& Söhne in Schweidnitz gefertigte
Orgel, die am 5. Oktober 1884 in gottesdienstlichen Gebrauch genommen wurde. Sie
kostete 11 000 Mark. Beglückwünscht
und reich beschenkt von seinen Glaubensgenossen, konnte der jüdische Prediger Moritz Cohn am 9. Oktober sein 25jähriges Amtsjubiläum feiern.
Wieder war ein
Winter herangekommen, diesmal aber wartete er mit einer angenehmen Überraschung
auf. Der Restaurateur Oskar Woithe
hatte auf einem Wiesengrundstück des Kräutereibesitzers Gustav Näse an der Beutlergasse
eine Eisbahn eröffnet, auf der sich
Erwachsene und die Jugend nun nach Herzenslust tummeln konnten. Der Eissport
gehörte von da an in Reichenbach zu
den beliebtesten Freuden der Winterszeit, und die Eislaufkunst brachte es in
der Stadt zu beachtlichem Aufschwung. Für den Sommer wurde an der gleichen
Stelle ein Teich angelegt, auf dem Gondelfahrten
veranstaltet wurden, die bis dahin in der Stadt unbekannt geblieben waren. Auch
diese Einrichtung erfreute sich eines starken Zuspruchs.
Einer Anregung
des wissenschaftlichen Vereins „Philomathie“
verdanken die beiden Gedenktafeln
ihre Entstehung, die im Jahre 1885 an
dem heutigen Verlagsgebäude des „Reichenbacher
Tageblattes“ und an dem ehemaligen Pastorenhause an der Pulverstraße angebracht wurden. Beide
Gebäude beherbergten berühmte Männer der Befreiungskriege. Die Tafel im Ringhause
kündet: „Hier wohnten während des
Waffenstillstandes 1813 Ernst Moritz Arndt und Theodor Körner.“ Auf der
anderen Tafel ist zu lesen: „Hier wohnte
während des Waffenstillstandes 1813 der Minister Freiherr vom Stein.“
Im Jahre 1885 sollte endlich ein Plan zur Tat
werden, der seit 60 Jahren wiederholt
erwogen war und immer wieder geruht hatte: der Bau einer städtischen Wasserversorgungsanlage. Oft genug hatte
der Wassermangel der öffentlichen und privaten Brunnen in den Zeiten der Dürre
sich als ein allgemeiner Missstand erwiesen, der besonders wegen des starken
Bedarfs der gewerblichen Betriebe und wegen der Schwierigkeiten in Brandfällen
dringend einer Besserung bedurfte. Es verlohnt, dem Werdegang der öffentlichen
Wasserversorgung nachzugehen. Sie geschah in alten Zeiten durch 13 städtische Ziehbrunnen, an deren Stelle
später Wasserpumpen traten. Vier
dieser Brunnen lagen an den Ringecken,
die übrigen an der Stadtmauer, auf der Tränkstraße
(Trenkstraße), Kirchgasse, Rudelsgasse,
der Brauerstraße, dem Klosterplan und
im Hofe der herzoglichen Burg. Der in Reichenbach
verstorbene Markscheider Länge
beschäftigte sich viele Jahre hindurch mit der Frage einer besseren Wasserversorgung.
Am 29. Januar 1823 schlug er in einer
längeren Ausarbeitung eine Röhrenleitung
vom Mühlgraben oder von der Peile bis zum Ringe vor, wohin das Wasser durch ein Druckwerk gepumpt werden
sollte. Bei Wegfall eines solchen Werkes bezeichnete er als notwendig, das
Wasser von Langenbielau oder Peilau auf dem Wege natürlichen Gefälles
durch Röhren in die Stadt zu leiten. Sein Vorschlag fand keinen Anklang, worauf
er ein Jahr später einen neuen Entwurf vorlegte, der eine Wasserentnahme aus
den Güttmannsdorfer Höhen oder aus
dem Klinkenbach vorsah. Die
Wasserzufuhr sollte durch Lärchenbaumröhren
erfolgen. Er berechnete die Anlage ohne das städtische Rohrnetz auf etwa 5500 Taler. Auch dieser Vorschlag scheiterte
in der Hauptsache an der Kostenfrage. Mehr als 40 Jahre ruhte das Projekt nun fast gänzlich, bis im Jahre 1865 ein Privatunternehmer, der Gasingenieur
Menzel, mit einem neuen Entwurf auf
den Plan trat, der drei Jahre lang ernstlich erwogen wurde. Er schlug vor, das
in der Nähe der Stadt aufzufangende Wasser in ein Hochbassin auf der Rondell-Schanze
unweit des Realgymnasiums vermittels Dampfkraft zu fördern und von da in einem Rohrnetz
der Stadt zuzuführen. Auch dieser Plan blieb unausgeführt.
Im Jahre 1871 ging man seitens der Stadtverwaltung
an die bereits geschilderte Errichtung eines Versuchsbrunnens hinter dem Schießhaus.
Dieser bewährte sich besonders in dem Dürrejahr 1873 in vollem Umfange und erwies sich trotz reichlicher Wasserentnahme
als unversiegbar. Noch einmal ruhte das Projekt fast zehn Jahre lang, in der Hauptsache wegen des Geldmangels der Stadt.
Dem energischen und unablässigen Eintreten des Beigeordneten Robert Rathmann ist es zu danken, dass
seit 1881 der Lösung des
Wasserleitungsproblems mit Erfolg nachgegangen wurde. Der bekannte Quellensucher
Graf Wrschowetz bezeichnete bei
seinen Versuchen am 14. September 1881
verschiedene Punkte im Umkreise der Stadt, so z. B. im Krankenhaus Bethanien, bei der städtischen Ziegelei und in der Nähe des heutigen „Schützenhofes“ als sehr wasserreich. Der Ingenieur Pfeffer aus Halle setzte diese Untersuchungen fort und empfahl der Stadt die
Stelle am Olbersdorfer Wege, die auch
später gewählt wurde und sich, was ihren Wasserreichtum angelangt, vortrefflich
bewährt hat.
Im Oktober 1882 wurde aus dem hier
errichteten Versuchsbrunnen 14 Tage und
Nächte ununterbrochen Wasser gefördert, ohne dass der Wasserstand unter acht Meter fiel. Der Brunnen lieferte in
der Minute etwa 840 Liter. Dieses
Ergebnis ließ eine ausreichende Wasserversorgung der damals 7000 Einwohner zählenden Stadt als
gesichert erscheinen. Dem Ingenieur Pfeffer
unterlief jedoch bei den Herstellungsarbeiten ein technischer Fehler. Er ließ
den Brunnen zu tief bohren, wodurch sich Laufsand
mit dem Wasser vermischte. Die spätere Folge wäre eine Versandung des Brunnens gewesen. Man übertrug die Ausführung des
Wasserwerkes schließlich dem Baurat Saalbach
aus Dresden, der die von Pfeffer gewählte Stelle als richtig
bezeichnete, aber gleichzeitig die Erdbohrung eines neuen Brunnens mit
geringerer Tiefe für notwendig erklärte. Im Frühjahr
1884 wurde mit den Arbeiten begonnen. Die Stadt nahm ein Darlehen von 220 000 Mark auf, das in 40 Jahren getilgt sein sollte. Der Bau
des Wasserturmes, des Pumpwerkes und des Rohrnetzes schritt so rüstig vorwärts, dass bereits am 3. März 1885 das erste Mal Wasser in die
Leitungen gegeben werden konnte. Nach verschiedenen Proben erfolgte am 30. Mai die Eröffnung der Wasserleitung und die Übergabe an die
Stadt. Die Wasserentnahme war zunächst den Grundstücksbesitzern freigestellt.
Durch Beschluss der Stadtverordneten vom
6. Oktober 1886 wurden aber
diejenigen Hausbesitzer zur Wasserentnahme verpflichtet, deren Grundstücke an
der Hauptleitung lagen. Beigeordneter Robert
Rathmann, dessen Verdienste um die Wasserversorgung bereits gewürdigt
wurden, sollte die Vollendung seines Werkes nicht lange überleben; er verschied
am 28. Juli 1886 im Alter von 57 Jahren.
Aus dem Jahre 1885 sind noch zwei Ereignisse nachzutragen.
Das 3. Bataillon des schlesischen Füsilierregiments Nr. 38, das in Reichenbach in Garnison lag, feierte am 4. Juli sein 25jähriges Bestehen, wozu die Stadt den Mannschaften
einen namhaften Festzuschuss bewilligte. Wenige Jahre später sollte die Stadt
ihre Garnison auf immer verlieren.
In den drei
Jahren seines Bestehens hatte der Reichenbacher
Eulengebirgsverein unablässig an der Erschließung des Gebirges gearbeitet. Im
Jahre 1885 ging einer der sehnlichsten
Wünsche in Erfüllung: die Errichtung eines Aussichtsturmes
auf der Hohen Eule. In rühriger Zusammenarbeit mit den Brudervereinen,
unter denen besonders der Wüstewaltersdorfer
Gebirgsverein sich dieser Ausgabe widmete, war es in kurzer Zeit gelungen,
die Baugelder zusammenzubringen. Dem bereits erwähnten Dr. Winkler aus Reichenbach
und dem Fabrikanten Wiesen aus Wüstewaltersdorf gebührt an der Finanzierung
dieses Unternehmens ein besonderes Verdienst. Am 20. September erfolgte die feierliche Grundsteinlegung. Mit Recht
ist in der im Grundstein niedergelegten Urkunde ausgeführt:
„Alle Aussichtspunkte unseres Gebirges bieten dem
Auge das bezaubernde Bild einer der herrlichsten Gegenden Schlesiens nach
dieser oder jener Richtung hin dar, aber keiner derselben gewährt eine
vollkommene Rundsicht. Erst von der Höhe des Baues, der sich über diesen Mauern
erheben wird, ist der Blick im Stande, ungehindert in weite Fernen nach Osten,
Süden, Westen und Norden zu schweifen und die ganze Pracht von Bergen und
Tälern, blühenden Städten und freundlichen Dörfern viele Meilen weit im
Umkreise zu übersehen. Mögen die Erwartungen, die sich um diese Fernsicht
knüpfen, in glänzender Weise erfüllt und die Anstrengungen der Vereine, diesen
höchsten Gipfel für die Freunde der Natur zu gewinnen, durch eine der außerordentlichsten
Aussichten der Welt belohnt werden! Möge das großartige Panorama, das sich von
hier über die gesegneten Fluren Schlesiens und der Grafschaft eröffnet, das
entzückte Auge fesseln und die Brust jedes Deutschen mit Stolz und Hochgefühl
für die schlesischen Berge, für das deutsche Vaterland erfüllen!“
Die Urkunde trägt
die Unterschrift der Vorsitzenden der Gebirgsvereine zu Langenbielau, Peterswaldau,
Reichenbach und Wüstewaltersdorf. Trotz aller Schwierigkeiten wurde der Bau so
rasch gefördert, dass die feierliche Einweihung des Turmes am 18. Juli 1888 erfolgen konnte. Der
Aussichtsturm erreichte eine Höhe von 20
Metern und kostete über 4000 Mark.
Aber nicht nur dem Eulengebirge wandten die Reichenbacher „Eulen“, wie man bald die Mitglieder der Eulengebirgsvereine zu
nennen pflegte, ihre Aufmerksamkeit zu. Auch der bis dahin wenig bekannte Költschenberg mit seiner prächtigen Aussicht
auf die Reichenbacher Ebene und die
dahinterliegenden Berge wurde nun dem Besuch weiter Kreise erschlossen. Der
Verein gab den Anstoß zur Einrichtung der im Jahre 1885 dort erbauten Bergrestauration,
vor der sich heute das einzigartig schöne Kriegerdenkmal
mit dem steinernen Löwen bei Költschen
erhebt.
Im Zusammenhang
mit dem sich hierdurch ständig hebenden Fremdenzustrom ergab sich eine Belebung
des Geschäftsverkehrs, eine Verdichtung der gewerblichen Niederlassungen und
ein ständiges Ansteigen der Einwohnerzahl. Bei der Volkszählung am 1. Dezember
1885 wurde die Stadt von 7366
Personen bewohnt, von denen 7280
ortsangehörig waren.
In festlicher
Weise wurde am 2. Januar 1886 das
25jährige Regierungsjubiläum des greisen Kaisers
Wilhelm I. in Reichenbach begangen.
Magistrat und Stadtverordnete übersandten eine mit dem goldenen Stadtwappen
geschmückte, in blauen Samt gebundene
Glückwunschadresse, die später dem Hohenzollern-Museum
überwiesen wurde. Ein großer Fackelzug mit der symbolischen Figur der Germania und ein Festabend beschlossen
den Gedenktag, an dem sich Angehörige aller Stände beteiligten.
Am 1. April 1886 hatte für einen alten
Brauch der Nachtwächter „die letzte
Stunde geschlagen“. Nach alter Sitte hatten sie früher ihre Wachsamkeit
stündlich durch ein Pfeifsignal und das Absingen des bekannten Nachtwächterliedes
bekunden müssen. Das Singen war bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts eingestellt worden. Nun wurde auch das Pfeifen
aufgehoben, um den Schlummer der Bürger nicht zu unterbrechen. Von jetzt ab
diente eine Kontrolluhr zur Prüfung
ihrer Wachsamkeit. Die ehrwürdigen Spieße,
die Wahrzeichen ihrer nächtlichen Polizeiobrigkeit, mussten zu gleicher Zeit
dem Säbel Platz lassen. Mit demselben
Tage stellte auch der Turmwächter auf
dem Turm der katholischen Stadtpfarrkirche
seine Tätigkeit ein. Am 5. Mai
beschlossen die Stadtverordneten die Zuschüttung
des Schanzgrabens zwischen der Schweidnitzer-
und der Tränkstraße (Trenkstraße) sowie die teilweise Abtragung der dort liegenden „Hohen Schanze“. Die Arbeiten konnten wegen der ansehnlichen Menge
der zu bewegenden Erdmassen nur allmählich gefördert werden, und bis zur
endgültigen Umgestaltung zu der heutigen Form vergingen mehrere Jahre.
Unter den
Vereinsgründungen dieser Zeit sind der am 3.
Februar 1886 ins Leben gerufene Gastwirteverein
und der am 2. Juni gebildete Radfahrerverein zu nennen. In dem
benachbarten Ernsdorf wurde am 15. Juni die erste Saug- und Schlauchspritze für die Ortsfeuerwehr in Gebrauch genommen. Die Ernsdorfer Kleinkinderschule konnte am 26. August ihr eigenes Haus beziehen, dessen Anlauf aus wohltätigen
Spenden möglich wurde, die bei einem vorangegangenen Bazar im Garten der „Sonne“
zusammengekommen waren. Noch vor dem Ende des Jahres 1886 erhielt die Stadt eine verbesserte Verkehrsverbindung durch
die über Güttmannsdorf und Girlachsdorf führende neue Chaussee nach
Nimptsch. Seither ist die alte Hahnstraße, die schon die Tataren und Hussiten zu ihren räuberischen Einfällen in das Reichenbacher Gebiet benutzten, nur noch
selten befahren worden. Sie ist heute größtenteils verwachsen und verfallen.
Wichtiger noch als diese Verbindung bleibt das Zustandekommen der
Eisenbahnstrecke von Reichenbach nach
Langenbielau. Die Vorarbeiten hierfür
wurden nach Überwindung mannigfacher Schwierigkeiten hinsichtlich der
Geländeabgabe soweit gefördert, dass der Bau in den beiden folgenden Jahren
vollendet werden konnte. Starke Schneefälle im Dezember, die zu Störungen des Eisenbahnverkehrs auf der Hauptstrecke
Schweidnitz—Reichenbach—Frankenstein
führten, schlossen das ereignisvolle Jahr ab.
Der Ratsherr und
Fabrikbesitzer Reisinger schenkte der
Stadt im Jahre 1887 eine Bronzebüste des Königs Friedrich Wilhelm III., die im Stadtverordnetensaal
Aufstellung fand. Im Standesamtszimmer fand ein Bild seinen Platz, das die
preußischen Heerführer aus dem Kriege
1866 darstellte. Sein Stifter war der
pensionierte Major Schall. Der Reichenbacher Klempnermeister Schön
hatte sich die Herstellung unzerbrechlicher
Puppenköpfe aus Metall patentieren lassen und begründete in Ernsdorf eine Fabrik, wodurch ein neuer Industriezweig
Eingang fand. Das Unternehmen stand längere Zeit in Blüte, bis die
fortschreitende Technik auch hierin einen Umschwung herbeiführte.
Der 90. Geburtstag des greisen Kaisers Wilhelm I. wurde in der Stadt am
22. März 1887 in feierlicher Weise
begangen. Am Vorabend bewegte sich ein ansehnlicher Fackelzug durch die Hauptstraßen. Der Jubeltag selbst wurde mit
Festgottesdienst in den Kirchen, Schulfeierlichkeiten und einer großen Parade
auf dem Ringe begonnen und mit einer
prächtigen Illumination abgeschlossen.
Bereits am 29. Juni 1886 hatte die Grundsteinlegung
zum Bau des neuen Postamtes
stattgefunden, das von den Baumeistern Böttger
und Fellbaum gemeinschaftlich
ausgeführt wurde. Das stattliche Gebäude in der nach ihm benannten Poststraße wurde am 1. Oktober 1887 bezogen. Im Dienste des Amtes waren damals 36 Beamte tätig. Die „Herberge zur Heimat“ vor der sogenannten
Pforte wurde vom Verein für Innere Mission
am 2. Januar 1888 eröffnet. Sie
entfaltete ihre segensreiche Tätigkeit in enger Zusammenarbeit mit dem Verein gegen Hausbettelei und gewährt
noch heute durchreisenden Handwerkern Beköstigung und Unterkunft gegen geringes
Entgelt oder kleinere Dienstleistungen. Stadt und Kreis unterstützen das Liebeswerk
durch laufende Beihilfen.
Eine für das Gemeindeleben
der Evangelischen wichtige Vereinsgründung erfolgte im Jahre 1888. Auf Anregung des Pastors Drescher wurde am 17. Oktober der Evangelische Männer- und Jünglingsverein ins Leben gerufen, der
noch heute unter dem Namen. „Evangelischer
Männerbund“ fortbesteht und dem kirchlichen Zusammenleben in der Öffentlichkeit
eine starke Stütze ist.
Zu einem Festtag
der katholischen Bürgerschaft gestaltete sich die Feier des goldenen Priesterjubiläums
des Papstes Leo XIII., die am 15. Januar 1888 unter starker
Beteiligung im Saale des Gasthauses „Zur
Sonne“ mit einem Festspiel und Chorgesängen des Gesangvereins „Arion“ begangen wurde. Von nicht
minderer Bedeutung, wenn auch in anderem Sinne, war die Veranstaltung, die am 25. Februar im gleichen Lokal stattfand:
der Herrenabend der freiwilligen Ortsfeuerwehr.
Nach dreijähriger Pause fand er wiederum ein ausverkauftes Haus. Humor und
Festfreudigkeit kamen wie immer voll zu ihrem Rechte. Dafür sorgte in erster
Linie das Auftreten des altbekannten „Herrn
Hitschfeld“, dessen launige Stadtchronik die Ereignisse der verflossenen
Zeit unter Lachen und Beifall in launiger Weise verewigte. Schöpfer dieser
Lokalfigur ist Alphons Paul, der
Verfasser der ein Jahr später erschienenen Stadtgeschichte.
Sämtliche Festteilnehmer waren mit Fensterglasbrillen
bewaffnet, die „weder zu groß, noch zu klein machen“. Fastnachtsfreiheit ließ
hier in humorvoller Weise die öffentliche Meinung über Einrichtungen und Persönlichkeiten
der Stadt zum Ausdruck kommen. Bis in unsere Tage haben die Herrenabende der
Feuerwehr diesen eigenartigen Charakter zu bewahren verstanden.
Verschiedene Bahnbauprojekte waren in der letzten
Zeit lebhaft erörtert worden. Besonders die Industrie des benachbarten Langenbielau strebte mit Eifer einen Bahnanschluss an. Auch die Nachbarstadt Nimptsch machte Anstrengungen, eine
Bahnverbindung mit der Hauptlinie Reichenbach—Frankenstein
zu erhalten. Der ursprüngliche Plan, die Strecke von Reichenbach nach Nimptsch
zu führen, zerschlug sich später. Statt dessen erhielt die neue Bahn ihren
Anschluss in Gnadenfrei. Zu gleicher Zeit
begannen die Vorarbeiten für den Bahnbau
nach Langenbielau, der sich trotz mancher Befürchtungen später für Reichenbach als wirtschaftlich recht
vorteilhaft erweisen sollte. Neben diesen Projekten wurden auch Bahnlinien von Faulbrück nach Peterswaldau und von Ströbel
über Reichenbach nach Neurode erörtert, ohne dass es zu einem
greifbaren Ergebnis kam. Erwähnenswert aus diesem Zeitabschnitt ist schließlich
noch der Fund von Skeletten bei der
Abtragung des Windmühlenberges, die
mutmaßlich aus dem Dreißigjährigen Kriege
herrühren.
Angeregt durch
das Beispiel anderer Städte war die Einführung elektrischer Beleuchtung in der Stadt ernstlich in Erwägung gezogen
worden. Man entschloss sich jedoch vorläufig zur Verlängerung des Vertrages mit
der Gasanstaltsgesellschaft, weil sich
die andere Beleuchtungsart damals noch in der Entwicklung befand.
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Das
Klosterkirchlein, heutiger Zustand
|
Allgemeine Trauer
herrschte in der Stadt, als am 5. März 1888
die Nachricht von dem Ableben des Kaisers
Wilhelm I. eintraf. Extrablätter verkündeten das seit Längerem befürchtete schmerzliche
Ereignis. Überall auf den Straßen und am Marktplatz bildeten sich Ansammlungen,
während von den Türmen beider Kirchen der eherne Mund der Glocken die Trauerbotschaft
ins Land rief. Trauerflaggen wehten von den Häusern. Drei Tage lang erschienen
die Zeitungen mit schwarz umrandeter Titelseite. Am 16. März, dem Beisetzungstage, blieben alle Geschäfte geschlossen.
Schon am 11. März war die Garnison auf den neuen Kaiser Friedrich III. vor dem Rathause vereidigt worden, drei Monate
später kündete wiederum Glockenläuten den Tod dieses besonderen Lieblings des
deutschen Volkes an. Aus dem „Dreibretzeljahr“
1888, wie es der Volksmund getauft
hatte, wurde das „Dreikaiserjahr“,
als Wilhelm II., Deutschlands letzter
Kaiser, den Thron bestieg. Als einziger der preußischen Könige hat er niemals
in Reichenbachs Mauern geweilt, auch
verbanden ihn keine engeren Beziehungen mit der Stadt, die einst der große
Friedrich vor allen anderen Städten Schlesiens
mit seiner besonderen Zuneigung bedachte.
Kurz vor dem Tode
Friedrichs III. war der Stadt noch
der Besuch eines hohen kirchlichen Würdenträgers zuteil geworden. Am Nachmittag
des 13. Juni traf der Fürstbischof Dr. Kopp nach dem Besuch von
Langenbielau und Peterswaldau in Reichenbach
ein. Ihm verdankte man zu einem großen Teil die Wiederherstellung des
kirchlichen Friedens nach den Kämpfen der achtziger Jahre zwischen dem Reichskanzler Fürst Bismarck und den Klerikalen. Die Stadt war zu seinem Empfange
festlich gerüstet. Vom Eingange der Schweidnitzer
Straße am Spillerberg über den Ring bis zur Kirchstraße war auf Flaggenmasten und Tannenbäumen eine mit Ehrenpforten
verzierte „Via Triumphalis“
geschaffen worden. Am Postgebäude
wurde der Kirchenfürst von den katholischen
Geistlichen des Kreises, dem Magistrat
und den Stadtverordneten empfangen
und nahm seinen Weg unter dem Geleit weißgekleideter Ehrenjungfrauen und Schulmädchen
durch ein Spalier der verschiedensten Vereine zur Stadtpfarrkirche.
Die Züchnerinnung, einst Reichenbachs bedeutendste Handwerkerzunft,
feierte am 15. und 16. Juli 1888 das Jubiläum ihres 500jährigen Bestehens,
das sie nach der Überlieferung einem Privileg des Herzogin Agnes verdankt. Am Jubeltage gehörten freilich nur noch 55 Meister der Innung an, und nicht mehr
als 29 Webstühle wurden von ihnen
betrieben. Die Heranbildung von Lehrlingen war bereits eingestellt. Die alte, ehrenwerte
und für den Aufschwung Reichenbachs
einst so bedeutungsvolle Zunft war im Aussterben begriffen. Das Zeitalter der
Technik und der Maschinen sang ihr in den Fabriken der Stadt im Surren von
tausend Rädchen und Spulen täglich und stündlich das Sterbelied. Magistrat und Stadtverordnete würdigten die letzte, große Feier der Innung durch
rege Anteilnahme. Weberinnungen aus allen Teilen Schlesiens entboten ihre Grüße. Aus Katscher in Oberschlesien
sandte die dortige Bruderzunft einen Deputierten, der einen mit allegorischen
Figuren reich verzierten Pokal als würdiges Gegenstück zu dem aus dem Jahre 1617 stammenden Innungsbecher überreichen ließ.
Am 1. August 1888 waren 40 Jahre vergangen,
seit der Landrat und geheime Regierungsrat Caesar
Olearius die Geschäfte des Kreises in schwierigen Zeiten übernommen hatte.
Zu diesem Gedenktage verlieh ihm die Stadt das Ehrenbürgerrecht mit einem
kunstreichen Ehrenbrief „als ein Zeichen
dankbarster Anerkennung der hohen Verdienste des Mannes, der seit 40 Jahren in
trüben und lichten Zeiten die Verwaltung des Kreises geleitet und der mit
demselben eng verbundenen Stadt stets Wohlwollen bewiesen hat“, wie die
Urkunde besagt.
Die Landtagswahl am 30. Oktober 1888 stand im Zeichen der Propaganda des Neuen Wahlvereins gegen die Freisinnigen. Letztere empfahlen ihren
Wählern angesichts der Aussichtslosigkeit eines Erfolges Stimmenthaltung, und
so wurden bei fast durchweg einseitiger Beteiligung im Wahlkreise Reichenbach-Neurode die Kandidaten der
Rechtsparteien, Fabrikant Lückhoff
aus Gnadenfrei und Geheimrat Dr. Simon aus Breslau, gewählt, von denen ersterer den Freikonservativen, der andere den Nationalliberalen angehörte. Die
seit jeher liberale Einstellung der Bürgerschaft hatte es geboten erscheinen
lassen, nur Kandidaten der gemäßigten
Rechten auszustellen. Zwei Tage später weilte der Regierungspräsident in der Stadt zu Gaste, um Vorbesprechungen über
den geplanten Bahnbau nach Nimptsch
zu führen. Sie hatten zum Ergebnis, dass die Abzweigung der Linie nicht in Reichenbach, sondern in Gnadenfrei erfolgen sollte. Der
ursprüngliche Plan, im Höllengrunde
die Strecke durch einen Tunnel zu führen, wurde später aufgegeben.
Schon seit
Jahresfrist schwebte zwischen dem Magistrat
und den Hausbesitzern ein beiderseits
mit Zähigkeit geführter Streit über die Kosten für die neuen, den gesteigerten
Bedürfnissen entsprechenden Bürgersteige.
Die Hausbesitzer wollten diese Kosten
nicht übernehmen, der Magistrat
ergriff Zwangsmaßnahmen. Am 28. November
1888 entschied schließlich der Kreisausschuss
in erster Instanz zugunsten der Hausbesitzer,
jedoch legte der Magistrat auf
Betreiben des damaligen Bürgermeisters
Eupel gegen das Urteil Berufung ein. Mehr als ein Jahr sollte hergehen, bis
der Streitfall unter seinem Nachfolger zu einer gütlichen Lösung gebracht
wurde. Dieser Nachfolger wurde am 7.
Dezember 1888 in der Person des Bürgermeisters
Koslik aus Sonnenburg gewählt,
nachdem Eupel seine Entlassung aus
städtischen Diensten nachgesucht und erhalten hatte. Bürgermeister Koslik trat sein Amt bereits am 19. Januar des folgenden Jahres an. In
die Zeit seines hiesigen Wirkens fällt ein bedeutsames Stück stadtgeschichtlicher
Fortentwicklung. Unter ihm wurde ein seit Längerem erwogener Plan rasch zur
Tatsache: die Eingemeindung des benachbarten
Ernsdorf. Damit beginnt ein neuer Abschnitt im Werdegang der Stadt. Aus der
Enge seines jahrhundertelang räumlich begrenzten Wirkungskreises trat Reichenbach mit dieser Eingemeindung
hinaus in ein Gebiet neuer Ziele und Aufgaben, wie sie aus der modernen
Entwicklung der Städte mit Notwendigkeit erwuchsen.
Vor Schilderung
dieses neuen Abschnitts sind noch einige Ereignisse aus dem bisherigen Reichenbach und Ernsdorf nachzutragen. Nach dem am 14. August 1888 erfolgten Tode des Rentiers Pietsch in Ernsdorf waren
den dortigen Schulen, der Armenkasse und dem Johanniterkrankenhaus namhafte Stiftungen von zusammen etwa 7000 Mark zugefallen. Im Herbst 1888 hatten die Stadtväter die Übernahme der evangelischen Schule, deren Verwaltung
und Unterhaltung bis dahin der Evangelischen
Schulsozietät obgelegen hatte, auf die Stadt mit allen Rechten und
Pflichten beschlossen. Am 1. April 1889
trat dieser Beschluss in Kraft. Fortan wurde die Unterhaltung der evangelischen
Schulen aus städtischen Mitteln bestritten. Die gleiche Absicht hatte für die katholische Schule bestanden. Ihre
Verwirklichung scheiterte jedoch zunächst an dem Widerstande der Katholischen Schulsozietät, die für ihre
Angehörigen eine allzu hohe Mitbelastung durch den zu erwartenden Neubau der evangelischen Schule befürchtete. Die
Folge davon war, dass die katholischen Bürger neben der Unterhaltung ihrer
eigenen Schule nun auch im Wege städtischer Steuern anteilmäßig zu den Kosten
des evangelischen Schulwesens beitragen mussten. Auf die Dauer war dieser
Zustand nicht haltbar, deshalb die katholischen Schulväter ein Jahr später
gleichfalls die Selbständigkeit ihrer Schulverwaltung aufgaben.
Außerordentlich
rege war in dieser Zeit das politische Leben. Neben dem „Neuen Wahlverein“, dem in der Hauptsache die Anhänger der Konservativen Partei angehörten, hatte
sich nach dem beendeten Kulturkampf der „Katholische
Volksverein“ gebildet, dessen Mitglieder sich zur Zentrumspartei bekannten. Im Mai
1889 schritt dann auch die in der Stadt und im Kreise zahlreich vertretene
Arbeiterschaft zur Bildung einer Organisation, die den Namen „Verein zur Förderung volkstümlicher Wahlen“
erhielt. Ihr Begründer und Führer war der in Langenbielau ansässige Reichstagsabgeordnete August Kühn. Trotz mannigfacher Schwierigkeiten gewann diese
Anregung ständig Boden, wovon die nächsten Wahlen ein deutliches Zeugnis
ablegten.
Beim neuzeitlichen
Umbau der Ladengeschäfte in der Riemerzeile
unter den Bauden im August 1889
wurde ein interessanter Fund gemacht. Man entdeckte im Fundament eines dieser Läden
einen Steinblock mit der Jahreszahl 1610, neben der beiderseits Fische eingemeißelt waren. An dieser
Stelle muss sich in früheren Zeiten der Verkaufsstand für Fischwaren befunden
haben, denn bekanntlich hatte im Mittelalter jede Verkaufsware den ihr von der
Stadtbehörde zugewiesenen Stand.
Mit dem 1. Oktober änderte der vor längerer Zeit
in die Stadt übersiedelte Ernsdorfer
Vorschuss- und Sparverein in Voraussicht der zu erwartenden kommunalen
Veränderung seine Firma. Er heißt seitdem „Vorschussverein
zu Reichenbach“. Am gleichen Tage veranstaltete der königliche Domchor im „Goldenen Stern“ ein stark besuchtes
Konzert, in dem kirchliche und weltliche Musik vom 16. Jahrhundert bis zur Neuzeit
zur Darbietung gelangte. Der Kandidat der Zentrumspartei,
Reichstagsabgeordneter Dr. Porsch aus
Breslau, sprach am 6. Oktober in
einer großen Versammlung über die Entstehung der Partei im Kulturkampf und über ihre Ziele.
Der leidige
Streit über die Kosten der neuen Bürgersteige führte erneut zu längeren öffentlichen
Auseinandersetzungen. Da die Stadtverwaltung
nach den eingezogenen Erkundigungen auch in dem Verfahren beim Bezirksausschuss kaum auf einen
durchschlagenden Erfolg hoffen durfte, hielt es Bürgermeister Koslik für angebracht, die Angelegenheit im Wege
eines sittlichen Vergleichs mit den Hausbesitzern
aus der Welt zu schaffen. Die am 22.
Oktober geführten Verhandlungen brachten schließlich ein Ergebnis, das
beide Teile befriedigte. Stadt und Hausbesitzer trugen die Kosten anteilig.
Mit Recht konnten die Parteien am Ende des Streits sagen: „Ein magerer Vergleich ist besser als ein fetter Prozess“. Das
seltene Schauspiel eines Meteorfalles
konnte am 30. Oktober 1889 in der
Stadt beobachtet werden. Am nordöstlichen Himmel wurde eine rötliche Feuerkugel
sichtbar, die bald wieder erlosch.
Auf eigenartige Weise
ist die Bezeichnung der heutigen Koslikstraße
zustande gekommen. Um die Mitte des Februar
1890 trug eines Tages dieser von der Schweidnitzer
Straße linksseitig abzweigende Weg Tafeln mit dem Namen des Bürgermeisters Koslik. Privatleute, die
an dem Wege neue Wohnhäuser erbauten, hatten auf diese Weise das neue
Stadtoberhaupt ehren wollen, dessen Tatkraft das Zustandekommen der Verschmelzung
von Ernsdorf mit der Stadt in erster Linie zu danken war; lag
dort dieser neue Weg ungefähr an der Grenze der bisher voneinander geschiedenen
Gemeinwesen. Später haben dann die städtischen Organe diesen Straßennamen übernommen
und auf diese Weise die zugedachte Ehrung zu einer dauernden gemacht.
Die allerseits mit
Spannung erwarteten Reichstagswahlen am
20. Februar 1890 brachten keine Entscheidung,
da der sozialdemokratische Kandidat Metzner
aus Berlin im Wahlkreis Reichenbach-Neurode trotz erhaltener 8556 Stimmen nicht die erforderliche absolute Mehrheit gewann. Bei
der Stichwahl am 1. März hatten sich
die bürgerlichen Parteien auf Dr. Porsch
geeinigt und brachten diesen mit 10 210
Stimmen gegen Metzner, der nur 400 Stimmen weniger erhielt, durch. Die
von den Unterlegenen vorgebrachte Wahlanfechtung hatte keinen Erfolg.
Alle Versuche,
die Garnison in Reichenbach zu erhalten, waren gescheitert. Auch eine in letzter
Stunde, am 12. März 1890, an den Kaiser gerichtete Eingabe der
Bürgerschaft blieb ohne Erfolg. Am Morgen des 1. April dieses Jahres verließ das Bataillon des schlesischen Füsilierregiments Nr. 38 mit klingendem
Spiel zum letzten Male die Stadt und rückte nach Glatz ab. Seit dem 30. Mai
1860 war Reichenbach ständig mit
Militär belegt gewesen. Später ist die Stadt nicht mehr Garnisonort geworden.
Mit dem Bataillon musste auch dessen Führer, Major Lademann, von der Stätte seines Wirkens Abschied nehmen. Mit
aufrichtigem Bedauern sahen die Bürger ihn und seine Krieger von dannen ziehen.
Lademann gehörte im Übrigen zu den
wenigen preußischen Offizieren, die sich durch hervorragende Tapferkeit aus dem
Soldatenstande in den Offiziersrang emporgedient hatten. Bei der Erstürmung der
Düppeler Schanzen hatte er durch todesmutige
Sprengung der Palisaden sein Leben für seine Kameraden in die Bresche
geschlagen. Aufgrund dieser Tat erhielt Lademann
später das Offizierspatent.
In so betrüblicher
Erinnerung dieser 1. April 1890 auch
einem weiten Kreise der Bürgerschaft blieb, ein anderes Ereignis, das am
gleichen Tage dem Werdegang der Stadt eine neue Wendung gab, ließ diesen
Verlust verschmerzbar erscheinen. Die bereits früher kurz gestreifte Eingemeindung von Ernsdorf wurde zur
Tatsache. Mit ihr beginnt ein neuer Abschnitt in Reichenbachs jüngster Vergangenheit.
Rekonstruktion und Anpassung an neue Rechtschreibregeln: Marcin Perliński (2025)