Vom
Zobtenberge
In
der Nähe der Stadt Schweidnitz erhebt sich ein Berg voll
schauriger und malerischer Naturschönheit, wie voll Sagen, der
Zotten- oder Zobtenberg, genannt der schlesische
Wetterhahn. Dieser Berg soll innerlich voll ungeheurer Schätze
sein. Eine Raubburg krönte seinen Gipfel, in ihr hauste ein
Ritter, den hieß
man nur den Hammerschlag; er führte kein Schwert, sondern
schlug die Menschen mit einem Hammer tot, und keiner, den er traf,
überlebte den dritten Schlag, wenn er nicht schon am ersten
genug hatte. Endlich ermannte sich der Mut der Schweidnitzer
Bürgerschaft zur Abwehr, die Burg ward erstürmt, und
ihre Trümmer begruben ihren
Herrn und seine Hauptrottgesellen. Die sitzen nun tief in des Berges
Schoße als Büßer ihrer Untaten. Einstens, im Jahre 1570,
geschah es, dass eines Sonntags ein Bürger aus Schweidnitz,
Johannes Beer genannt, einen Spaziergang auf den Zobten
machte, wie er schon öfters getan, und da sah er von ohngefähr
eine früher noch nicht erblickte Öffnung, aus der ein
Luftzug strömte. Es verwunderte ihn das, doch ging er nicht
hinein, sondern wieder nach Hause, aber die Höhle kam ihm Tag
und Nacht nicht aus den Gedanken. Am nächsten Sonntag ging
Johannes Beer wieder auf den Zobten hinauf, fand die
Öffnung, und wagte sich hinein. Er kam in einen Felsengang und
in eine Grotte, in die er nach dreimaligem Klopfen durch eine Türe
trat, aus welcher durch eine Glasscheibe ein heller Lichtschein
strahlte. In der Höhle stand ein Positiv mit silberner und
goldner Klaviatur. Darauf spielte Beer und es gab einen gar
wundersamen feierlich erhabenen Klang. Und da ward
er eines runden Tisches gewahr mitten in der Höhle, daran saßen
drei lange bleiche, ganz abgemergelte alte Männer in
ritterlicher Haustracht und mit Baretten
auf ihren Häuptern, mit bekümmerten Mienen und zitternd.
Vor ihnen auf dem
Tische hat ein großes goldbeschlagenes Buch gelegen, gebunden
in schwarzen Samt. Zu diesen Männern sprach Johann Beer: „Pax
vobis!“ Darauf antworteten die Alten aus einem Munde
schauerlich: „Hic nulla pax!“ Noch einmal, den Männern
näher tretend, rief Beer: „Pax vobis in Nomine Domini!“ —
aber mit matter Stimme und erzitternd flüsterten eintönig
die Greise: „Hic non pax.“ Da trat Beer ganz nahe
heran zu dem runden Tisch und sprach noch einmal: „Pax vobis in
Nomine Domini Nostri Jesu Christi!“ Darauf antworteten die
Alten gar nicht, sondern deuteten auf das schwarze Buch, schlugen es
auf, und zeigten dessen Titel, welcher lautete: Liber Obedientiae
(„Buch der Buße.“) — „Wer seid ihr Männer?“
— fragte Beer. „Wir kennen uns selbst nicht!“ —
antworteten jene. „Was tut ihr hier?“ — fragte er
weiter. „Wir erwarten das Jüngste Gericht und den Lohn
unserer Taten hier in Schrecken!“ — scholl die Antwort. —
„Welche Taten sind das?“ — war die Weiterfrage. Da
wiesen sie auf eine
Seitengrotte, vor der ein Vorhang sich hinwegzog, und darin lagen und
hingen tödliche Waffen, Hirnschädel, Knochen und ganze
Menschengerippe. „Bekennet ihr euch zu vielen Werken des
Mordes?“ — „Ja!“ — „Erkennet ihr sie für
gute oder böse?“ — „Oh, böse, böse!“
— „Und sind sie euch von Herzen leid?“ — „Wir
wissen es nicht, frage nicht weiter!“ — sprachen noch einmal
die Alten und
erzitterten heftiger denn zuvor, und Johannes Beer empfand ein
tiefes Grauen und eilte aus der
Höhle des Zobtenberges zurück. Nie fand er sie
hernachmals wieder.
 
Quelle:
Ludwig Bechstein „Deutsches Sagenbuch“, Leipzig 1853,
Seiten 540 ... 542 (Text Nr. 648)
Texterkennung
und Anpassung an neue Rechtschreibregeln: Marcin Perliński
(2025)
Archaische
Lexik und Stilistik (fast) gänzlich beibehalten!
 
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Der Zobtenberg / Góra Ślęża
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