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14. Abschnitt
Von der letzten Staatsumwälzung bis zur heutigen
Zeit
Freiheit, Frieden
und Brot!
Unter diesem
Zeichen stand die Geburtsstunde der neuen Zeit, die mit dem 11. November ihren Einzug hielt. Die Waffen
ruhten. Heimwärts zogen die endlosen Heereskolonnen. Wer an diesen Tagen in Reichenbach durch die Straßen ging,
gewahrte überall Menschenansammlungen, die mehr oder minder erregt den Umsturz
der Dinge besprachen. Die Zeitungen übermittelten von Stunde zu Stunde neue
Nachrichten. In Berlin war eine Volksregierung ausgerufen worden. Sie
ermahnte zu Ruhe, Ordnung und Pflichterfüllung und forderte zur Bildung von Arbeiter- und Soldatenräten auf. Bereits
am 13. November war in der Stadt ein solcher
Soldatenrat gebildet. Auf dem Rathaus
und dem Kreishaus wurden rote Fahnen
aufgezogen. Trotz der verständlichen Unruhe vollzog sich die Staatsumwälzung
ohne Blutvergießen und Störungen. Nicht anders geschah es bei der Bildung des Arbeiterrates, der sich in richtiger Erkenntnis
der Dinge bald Volksrat nannte und in
den auch zahlreiche Vertreter der Bürgerkreise berufen wurden. Das verständnisvolle
Zusammenwirken weiter Volksteile bei dieser Umstellung der Staatsform hat Reichenbach vor schädigenden Unruhen
bewahrt. Auch die Bauernschaft begann
sich in ähnlicher Weise zu organisieren. Trotz mancher Schwierigkeiten
arbeiteten die Behörden, vor allem die Verkehrseinrichtungen, in gewohnter Art
weiter.
Kritischer gestalteten
sich die Zeiten, als im Dezember zu den
Wahlen für die neue Nationalversammlung
aufgerufen wurde. In erregten Versammlungen schoben sich alte Parteigegensätze wieder
in den Vordergrund. Auch der Kampf um kulturelle Fragen entbrannte. Am 15. Dezember wurde in einer von über 1000 Personen besuchten evangelischen
Volksversammlung gegen die Trennung von Kirche und Staat Stellung genommen. Das
untätige Verhalten des Magistrats bei
der Bildung des Volksrates erfuhr in
der Stadtverordnetenversammlung eine
scharfe Kritik. So neigte sich das schicksalsschwere Jahr 1918 seinem Ende zu. Vorher aber, am Weihnachtsabend, war einer aus
der Zahl der älteren Reichenbacher in
die Ewigkeit eingegangen, dessen Name mit der Geschichte der Stadt eng verknüpft
ist: Alphons Paul, der heimatliche
Schriftsteller. Ihm verdanken wir eine bis zum Jahre 1888 fortgeführte Stadtchronik, die auch für die vorliegende Arbeit
wertvolle Unterlagen lieferte. Er ist der Schöpfer der bekannten Lokalfigur des
„Herrn Hitschfeld“, die noch heute
von Zeit zu Zeit bei den traditionellen Herrenabenden der Freiwilligen Feuerwehr ihre Auferstehung feiert. Zum Gedächtnis an Alphons Paul möge der sinnige Nachruf
hier einen Platz finden, den ihm seine zahlreihen Freunde in der heimischen Presse
widmeten:
„Der immer froh gelaunte, der stets zufriedene
Poet ist gestorben und wird keine stimmungsvollen Berichte und kein heiteres
Verslein mehr schreiben. Aber wo er jemals im frohen Kreise geweilt, da wird er
unvergessen bleiben.“
Das erste
Friedensjahr nach dem verlorenen Kriege stand anfangs noch ganz im Zeichen der veränderten
Verhältnisse. Zum Jahresbeginn war ein großer Teil der Krieger wieder in ihre
Heimatstadt zurückgekehrt, die ihnen einen stillen, aber umso herzlicheren
Empfang bereitete. Da die Lage im ganzen Lande noch recht unsicher war, bildete
sich in der Stadt im Januar 1919 eine
Bürgerwehr. Mit großer Heftigkeit
wurde der Wahlkampf der Parteien für die bevorstehende Nationalversammlung in Weimar
fortgesetzt. Außerordentlich stark war die Beteiligung bei der Wahl am 19. Januar, der ersten in der neuen
Republik. Neunzig Prozent der Wähler gaben ihre Stimmen ab. Mehr als die Hälfte
davon entfiel auf die Liste der Sozialdemokratischen
Partei, verschwindend gering blieb die Zahl der Anhänger der alten
Rechtsparteien. Dieses Bild änderte sich jedoch schon bei den bald darauf
erfolgten Wahlen für den neuen Freistaat
Preußen. Sie brachten eine merkbare Verschiebung zugunsten der Bürgerlichen. So sehr bei diesen politischen
Wahlen die Parteigegensätze in Erscheinung getreten waren, so wenig war dies bei
der Bildung des neuen Stadtparlaments
im März der Fall. Alle Parteien
fanden sich in einer Einheitsliste zusammen, sodass die Wahl unterbleiben
konnte. Trotz des Friedenszustandes war der Mangel an Lebensmitteln unverändert
geblieben, und zu dieser inneren Not gesellte sich nun auch noch die äußere, als
die unmenschlich harten Friedensbedingungen bekannt wurden. Schon die Maifeier der Arbeiterbevölkerung stand
im Zeichen der Völkerverständigung und der Forderung auf Herausgabe der Kriegsgefangenen,
und am 15. Mai fand unter allseitiger
Beteiligung auf dem Ringe eine Protestkundgebung
gegen einen solchen Schmachfrieden statt. Aber Deutschland war ohnmächtig. Noch manche Unbill sollte ihm in den
nächsten Jahren widerfahren.
Die unsicheren
Verhältnisse brachten es mit sich, dass allerlei dunkle Elemente aus dieser
Notlage des Volkes Gewinn zu ziehen versuchten. Die Lebensmittel wurden
aufgekauft, und unter dem Preiswucher
litt jetzt die ärmere Bevölkerung noch ärger als in der Kriegszeit. Alle
Bemühungen der Behörden, hiergegen Abhilfe zu schaffen, blieben erfolglos. So
kam es, dass in Reichenbach am 15. Mai 1919 Tumulte ausbrachen; die
noch heute als „schwarzer Freitag“ in aller Erinnerung stehen. In unverantwortlicher
Weise aufgewiegelt, versammelte sich an diesem Tage eine große Volksmenge auf
dem Ringe. Verhandlungen des Landrats mit den Wortführern der Demonstration führten zu keiner Beruhigung. Die
aufgeregte Menge setzte schließlich beim Bürgermeister Steuer die Vornahme von Haussuchungen
nach verborgenen Lebensmitteln durch. Wiewohl hierzu Polizeibeamte beigegeben
wurden, ging es dabei ohne Gewaltmaßnahmen nicht ab. Das Ergebnis dieses rechtswidrigen
Schrittes stand zwar in keinem Verhältnis zu den gehegten Verdächtigungen, es brachte
aber in die Einwohnerschaft der Stadt einen inneren Zwiespalt, dessen Folgen
lange nachwirkten. Erst allmählich kehrten nach diesem Ereignis ruhigere Zeiten
in die Stadt zurück. Umso freudiger begrüßten es die katholischen
Gemeindemitglieder, als am 8. Juni
ein Friedenshirte in Reichenbach
Einzug hielt. Fürstbischof Dr. Bertram
wurde an diesem Tage in der Stadt festlich begrüßt.
Die Erntezeit
führte zu einem starken Anwachsen der Felddiebstähle,
wogegen man sich wegen der Unzulänglichkeit der Polizeikräfte durch Einsetzung städtischer
Feldhüter zu schützen suchte. Schon
machte die Entwertung des Geldes rasche Fortschritte; noch ahnte freilich
niemand, welchen Zahlentaumel die folgenden Jahre bescheren sollten. Musikdirektor
Wiedemann, dessen Name mit der Pflege
der Kirchenmusik in der Stadt seit 37 Jahren aufs Engste verknüpft war, schied
am 28. September aus seinem Amte. Er
fand in Kantor Herbert Mattheus einen
würdigen und begabten Nachfolger, der das Werk seines Vorgängers schaffensfreudig
und mit sichtlichem Erfolge fortführte. Das bewies schon die am Totensonntage
von ihm veranstaltete Ausführung des
Requiems von Mozart. Das große Gotteshaus war überfüllt, viele Besucher
fanden keinen Einlass mehr. Im Zeichen der Lebensmittel- und Kohlennot endete
das erste Friedensjahr. Im November
war Reichenbach zehn Tage lang vom
Personenverkehr fast ganz abgeschnitten, da die Züge unablässig Kohlen heranschaffen
mussten. Die Volkszählung ergab 15 435 Einwohner, unter denen die weibliche
Bevölkerung die männliche um mehr als 1900
Köpfe überwog, ein erschreckendes Spiegelbild der Verluste des Weltkrieges.
Der Neujahrstag 1920 war zugleich der Jubiläumstag der größten
Zeitung der Stadt. An ihm feierte das „Reichenbacher
Tageblatt" sein 75-jähriges Bestehen, wovon eine bildgeschmückte Festausgabe
Zeugnis ablegte. Bald kamen wieder unruhigere Tage. Am 15. März griff der in Berlin
ausgebrochene Kapp-Putsch auch auf Reichenbach über. Die republikanische Bevölkerung antwortete
darauf mit dem Generalstreik, sodass
die Umsturzbewegung hier schon nach vier Tagen zusammenbrach, ohne dass es zu
Ruhestörungen kam. Angesichts der entschlossenen Haltung des verfassungstreu gesinnten
Teiles der Einwohnerschaft machten die Truppen des „Diktators“ Kapp erst keinen Versuch, Reichenbach zu besiegen. Wenige Tage
nach dem Putsch weilte der Regierungspräsident Dr. Jaenicke erstmalig in der Stadt. Im öffentlichen Leben waren
aber die Nachwirkungen des Putsches noch lange zu verspüren, und die Maifeier dieses Jahres gestaltete sich
zu einer von Tausenden besuchten Kundgebung gegen die gewissenlose Störung des
kaum erst gefestigten inneren Friedens.
Auch bei den Reichstagswahlen am 6. Juni traten diese Ereignisse in Erscheinung. Sie brachten in der
Stadt eine Abwanderung der Wähler von den Parteien der Mitte nach rechts und
links. Sogar die Sozialdemokratische
Partei verlor viele Stimmen. Die bisher stark vertretenen Demokraten büßten
mehr als die Hälfte ihrer Anhänger ein. Politische Beeinflussung war in der
folgenden Zeit die Ursache zu zahlreichen Kirchenaustritten.
Seitdem nahm die Zahl der konfessionslosen Einwohner der Stadt zu und erreichte
eine früher nicht gekannte Höhe. Der Mangel an Wohnungen zwang im Herbst die städtischen Behörden zum
Bau von Baracken, um wenigstens die
Obdachlosen unterzubringen. Das einzig Erfreuliche blieb, dass sich am Ende des
Jahres die Einwohnerzahl wesentlich gehoben hatte. Sie war um mehr als 700 Köpfe wieder auf nahezu 16 000 gestiegen.
Diese Tatsache
zwang gebieterisch zu umfassenden Maßnahmen
im Wohnungsbau. Für Privatleute war ein solcher infolge der Zeitverhältnisse
schlechterdings unmöglich geworden. Deshalb nahm die Stadt den Bau von Wohnhäusern selbst in die Hand.
Zu Beginn des Jahres 1921 wurde
hierfür ein Bauplan aufgestellt, namhafte Mittel wurden bewilligt. Auf dem von
der Stadt am Bahnhof erworbenen
Gelände sollten zwei Häuser zu je zwölf Wohnungen und weitere sieben Bauten zu
je vier Wohnungen in der Schweidnitzer
Vorstadt errichtet werden. Die Stadtverwaltung hat dieses Bauprogramm trotz
mannigfacher Hindernisse im Laufe der nächsten Jahre glücklich zu Ende geführt.
Bei dieser Gelegenheit wurde auch die freundliche Grünanlage vor dem Bahnhof geschaffen. Dem Gedenken der Toten des
Weltkrieges galt eine von der evangelischen Gemeinde am 9. Januar abgehaltene Feier. Das Erdgeschoss des Kirchturmes war
als Gedächtnishalle eingerichtet
worden. Die Wände des Raumes tragen die Namen von 435 Angehörigen des Kirchspiels, die in den Kriegen von 1813 bis 1918 ihr Leben für das Vaterland hingaben. Aber über Gräber hinweg richtete
sich der Blick der Lebenden auch auf Deutschlands Zukunft, auf seine Jugend.
Ihrer Gesundung und Ertüchtigung waren die Reichsjugendwettkämpfe
gewidmet, die in der Zeit vom 17. bis zum
19. Juni erstmalig in Reichenbach
vor sich gingen. Hier trafen sich die jungen Turner, Sportler und Schwimmer und
maßen in friedlichem Wettstreit ihre Kräfte. Das gute Gelingen der Veranstaltung
war zum großen Teil ein Verdienst des Studienrats Senkpiel, der seine Kraft unermüdlich für die Pflege der
Leibesübungen einsetzte und die Vereine der Stadt in einem Ortsausschuss zu gemeinsamer Arbeit zusammenführte. Diesen
vereinten Bemühungen gelang es schließlich auch, die Stadt zum Bau eines
zeitgemäßen Sportplatzes zu bewegen,
dessen Einweihung am 4. September
vollzogen wurde. Die Kosten der Anlage wurden teils aus Mitteln der produktiven
Erwerbslosenfürsorge bestritten, teils wurden sie durch freiwillige Spenden und
durch Sammlungen der Turn- und Sportvereine aufgebracht. Aus dem Sommer 1921 ist noch das Sängerfest des Eulengaues zu erwähnen,
das 30 Vereine mit mehr als 1500 Teilnehmern in einem Festzug durch
die Stadt vereinigte.
Nach den oberschlesischen Aufständen und den
Drangsalierungen der Deutschen im abgetretenen Posen, waren in Reichenbach
zahlreiche Flüchtlinge eingetroffen, die man in Notquartieren unterbrachte, so gut dies der allgemeine
Wohnungsmangel zuließ. Zum Teil fanden diese Vertriebenen hier eine zweite
Heimat. Am 25. Oktober trat zum ersten
Mal der von Kantor Mattheus
gegründete Madrigalchor mit einem
Konzert vor die Öffentlichkeit. Der gute Besuch der Veranstaltung bewies das
rege Interesse der Einwohnerschaft für die von dem Verein besonders gepflegten
Heimatlieder. Inzwischen war am unteren Ende der Poststraße ein neues Gebäude entstanden, dessen eigenartige, ganz
der neuzeitlichen Bauart angepassten Formen noch heute den Blick des Fremden
auf sich lenken. Der Bau diente der Aufnahme eines Lichtspieltheaters und erhielt den gut gewählten Namen „Schauburg“. Die Einweihung des Lichtspielhauses, das die Firma Robert Klatt erbaute, erfolgte zu
Beginn des November. Um die gleiche
Zeit war die Kartoffelversorgung der Stadt stark gefährdet, doch gelang es dem
unermüdlich sorgenden Landrat im Verein
mit der hilfsbereiten Landwirtschaft des Kreises, den dringendsten Bedarf der
Bevölkerung zu beschaffen. Nun nahm auch der Verband der Eulengebirgsvereine auf einer vor Jahresschluss in Reichenbach abgehaltenen Tagung die
Arbeiten zur Erschließung des heimatlichen Gebirges für den Fremdenverkehr wieder
tatkräftig auf. Es wurde eine einheitliche
Kennzeichnung der Touristenwege festgelegt und mit den Vorarbeiten zur
Einrichtung von Kraftwagenlinien nach den besuchtesten Punkten der Berge
begonnen, doch verging bei den unsicheren Geldverhältnissen noch einige Zeit,
bis diese wichtige Verkehrsfrage gelöst war. Kurz vor dem Weihnachtsfest traf
die Industriebevölkerung der Stadt ein harter Schlag. Nach vergeblichen Lohnverhandlungen, die seit geraumer Zeit eine ständige
Begleiterscheinung der schier uferlosen Markentwertung geworden waren,
kündigten am 21. Dezember die
Textilfabrikanten ihrer Arbeiterschaft. Das Los der Ausgesperrten, die wegen der Inflation aus den Gewerkschaftskassen
nur unzureichend unterstützt werden konnten, war bedauernswert. Erst am 1. Februar des folgenden Jahres endete die
Massenaussperrung, die größte seit
den letzten Jahrzehnten.
Das Jahr 1922, das unter so ungünstigen Anzeichen
begonnen hatte, sollte im Weiteren der Stadt noch manches Ereignis von Bedeutung
bringen. Am 26. Januar verschied der katholische
Stadtpfarrer und geistliche Rat Huck
nach 24-jährigem Wirken in seiner Kirchengemeinde. Allgemein war die Trauer
über den Heimgang dieses hochgeachteten Mannes, dessen Lebenswert erfüllt war
vom Geiste gegenseitiger Duldsamkeit und christlicher Hilfsbereitschaft. Sein
Nachfolger wurde der Stadtpfarrer Teubner.
Im Frühjahr begann an vielen Stellen
der Stadt eine rege Neubautätigkeit.
Die Firma Rosenberger errichtete eine
Werksiedlung, ebenso wurden neue Kleinwohnungen in der Frankensteiner Vorstadt geschaffen. Nach dem Kriege hatten die
Obliegenheiten der Stadtverwaltung in solchem Umfange zugenommen, dass die Anstellung
eines besoldeten Stadtrates zur Entlastung
des Bürgermeisters notwendig geworden war. Die am 4. April vollzogene Wahl fiel diesmal nicht auf einen Verwaltungsfachmann,
sondern auf den Redakteur Schönwälder
aus Hirschberg, der später zweiter
Bürgermeister wurde und das in ihn gesetzte Vertrauen in jeder Weise
rechtfertigte. Der vor elf Jahren gegründete Detaillistenverein wurde infolge der veränderten Wirtschaftsverhältnisse
am 29. April aufgelöst und als Gewerbeverein
auf eine erweiterte Grundlage gestellt. Als solcher spielt er noch heute im
gemeindepolitischen Leben Reichenbachs
eine bedeutende Rolle.
Große Aufregung
verbreitete sich am 8. Mai über die
Stadt. Es war das Gerücht aufgetaucht, dass ein Schlosser namens König wegen Verwicklung in die oberschlesischen
Wirren ins Gefängnis eingeliefert worden sei, um danach an die Besatzungsbehörden
ausgeliefert zu werden. Im Nu sammelte sich eine nach vielen Hunderten zählende
Volksmenge vor dem Amtsgericht, drang
in dasselbe ein und befreite den Verhafteten. Später stellte es sich heraus,
dass König auch wegen anderer Straftaten
gesucht wurde; immerhin blieb dieses an sich ungesetzliche Vorgehen ein Zeichen
für die Erbitterung, die auch in Reichenbach
weiteste Kreise nach den polnischen Gräueltaten in Oberschleien ergriffen hatte. Nicht minder bemerkenswert bleibt der
folgende Tag, der 9. Mai 1922. Die
Amtszeit des Bürgermeisters Steuer
war abgelaufen. Zwar wünschte ein großer Teil der Bürgerschaft sein weiteres
Verbleiben auf diesem Posten, aber trotzdessen wurde nach vorangegangenem,
heftigem Wahlkampfe am genannten Tage der Stadtrat Dr. Arndt aus Calbe mit
knapper Mehrheit als neues Stadtoberhaupt gewählt. Zwischen ihm und einem Teil
der Bürgerschaft, wie des Stadtparlaments entstanden in den folgenden Jahren seiner
Amtstätigkeit unerquickliche Meinungsverschiedenheiten, die zu einem Disziplinarverfahren gegen das
Stadtoberhaupt führten. Das Urteil der Gerichtsbehörde lautete in erster Instanz
auf Entfernung aus dem Amte. Der Einspruch des Bürgermeisters hiergegen ist zur
Zeit noch nicht entschieden.
Die Wogen der
Erregung über den am Reichsminister Rathenau
verübten Mord gingen auch in Reichenbach
hoch. Am 27. Juni bildete sich ein
Demonstrationszug, der auf dem Marktplatz
Aufstellung nahm und die Teilnahme des Landrats
und der Vertreter der Stadtverwaltung
an der republikanischen Kundgebung
auf dem Ringe verlangte. Man kam dieser
Aufforderung nach, und die Veranstaltung verlief ohne Zwischenfälle. Dagegen rief
in der Nacht zum 2. Juli die Verhaftung
eines Betrunkenen einen Menschenauflauf hervor, dessen Urheber unreife Burschen
und arbeitsscheue Elemente waren. Man versuchte die Polizeiwache zu stürmen,
aber der Polizeikommissar Rückwarth
trat mit seiner geringen Polizeimacht der aufgewiegelten Menge mit solcher Umsicht
und Tatkraft entgegen, dass die Aufrührer schließlich das Feld räumen mussten.
Die Hauptübeltäter erhielten später erhebliche Freiheitsstrafen. Der Tumult gab
den Anlass zu einer Vermehrung der städtischen Polizei, die sich dank ihrer straffen
Disziplin auch bei späteren Gelegenheiten ihrer Aufgabe, für Ruhe, Sicherheit
und Ordnung in der Stadt zu sorgen, stets in vollem Umfange gewachsen zeigte.
Anhaltende Dürre brachte eine schlechte Ernte und
gleichzeitig die Verteuerung der notwendigsten Lebensmittel: Kartoffeln, Brot
und Milch. In Scharen zog die hungernde Bevölkerung vor die Stadt und plünderte
die Felder. Nach den aufregenden Tagen des Sommers fand am 28. August endlich wieder eine friedliche Veranstaltung statt. Die evangelische Gemeinde holte in
feierlicher Weise die neuen Glocken
für ihr Gotteshaus ein. Nach schönen Herbsttagen trat am 4. Oktober unerwartet Hochwasser
ein, und auch diesmal war der Schaden an den längs der Peile gelegenen Häusern, Gärten und Kräutereien wieder erheblich.
Die ständig zunehmende Entwertung des Geldes warf alle wirtschaftlichen
Berechnungen, im Großen wie im Kleinen, über den Haufen. Unter den fortgesetzten
Steigerungen der Preise litten naturgemäß die Verbraucherkreise am meisten. Als
im November die Gaspreise wiederum erheblich erhöht wurden, bemächtigte sich eine
allgemeine Erregung der Einwohnerschaft, die zu heftigen Auseinandersetzungen mit
der Leitung der Betriebswerke im Stadtparlament führte. Es bleibt
freilich zu berücksichtigen, dass sich gerade zu dieser Zeit eine weittragende
Veränderung im städtischen Gaswerk vollzog. Anstelle der alten Gasanstalt entstanden
auf dem Gelände an der Peterswaldauer
Straße die mächtigen, neuzeitlichen Werkanlagen der heutigen „Gaszentrale unter der Eule“, deren Bau die
Hauptursache für die Verteuerung des unentbehrlichen Brennstoffes bildete. Bald
ließ die Hochflut der Inflation auch diese Tagesfrage vergessen. Als eine besonders
kennzeichnende Zeiterscheinung der Geldentwertung seien an dieser Stelle schließlich
noch die Begleitumstände erwähnt, unter denen sich der Übergang des altehrwürdigen
Hotels „Zum schwarzen Adler“ am Ringe in den Besitz des Reiches vollzog. In diesem Gebäude hat heute
das Finanzamt seinen Sitz. Am 15. September 1922 hatte der Besitzer
das stattliche Haus zu einem Verkaufspreise von zweiundeinhalb Millionen „Papiermark“, wie schon damals der
Volksmund das entwertete Geld bezeichnete, dem Reiche angeboten und sich,
nichts Schlimmes ahnend, zwei Monate lang an dieses Preisangebot gebunden erklärt.
Am letzten Tage der Erklärungsfrist erteilte die Reichsbehörde auch prompt ihre Zusage. Inzwischen war die „Papiermark" um ein Vielfaches
ihres Wertes gefallen und der Verkäufer ein ruinierter Mann. Sein Versuch, das
Vermögen auf gerichtlichem Wege zu retten, schlug fehl. Die ihm auferlegten
Gerichtskosten betrugen bereits das Siebenfache des Verkaufspreises! Über dieses
Inflationsgeschäft des Reiches herrschte
damals in der Bürgerschaft eine begreifliche Entrüstung, und es war nur ein unbefriedigender
Billigkeitsakt, als das Reich den
Kaufpreis freiwillig auf 120 Millionen
„Papiermark“ erhöhte und dem Vorbesitzer außerdem eine kleine Entschädigung
durch Überlassung eines Ladens bot, denn gemessen am Dollarstande betrug der
Friedenswert dieser 120 Millionen nur
etwa 7300 Mark, während das Gebäude
wohl den zwanzigfachen Wert und mehr haben mochte. Freilich stand dieser Fall
nicht vereinzelt da. Auch viele andere Grundstücksverkäufe vollzogen sich unter
ähnlichen Verhältnissen, aber niemand wird leugnen können, dass solche
Begleiterscheinungen auf Treu und Glauben, die Grundlagen ersprießlichen Gemeinschaftslebens,
erschütternd wirken mussten. Noch lange sollte der tolle Zahlenwirbel anhalten,
der die Rechenkünste des einfachen Mannes bis ins Ziffernreich der Billionen spielen
und die Spargroschen von Jahrzehnten in ein trostloses Nichts zerrinnen ließ.
Im Zeichen des
rasenden Tempos dieser Inflationszeit stand das Jahr 1923. Dem Wunsche der Freiwilligen
Feuerwehr, am 11. Februar das erste
halbe Jahrhundert ihres Bestehens in einem größeren Rahmen zu feiern, setzte
die Geldnot engste Schranken. Dennoch fanden sich wieder viele zu der bescheiden
gehaltenen Feier in der „Sonne“ zusammen
und vergaßen in ein paar heiteren Stunden die ungewisse Zukunft. Mit dem Einzuge
des Frühjahrs entschwand die Sorge um die Kohlenbeschaffung. Ein Wirbelsturm am 8. Mai ging unmittelbar an der Stadt vorbei und richtete im Niederkreis große Verheerungen an. Am
14. Mai war dann der Tag gekommen, an
dem Reichenbach sein neues Gaswerk feierlich einweihen
konnte. Aus diesem Anlass weilte der Regierungspräsident Dr. Jaenicke in der Stadt.
Schon lange bestand
der Wunsch, den Toten auf dem Kriegerfriedhof
und zugleich den Gefallenen des
Weltkrieges ein würdiges Ehrenzeichen zu setzen. Trotz mancher Hemmnisse
konnte am 30. Juni 1923 das wuchtige Steinmal enthüllt werden, das den an der
Breslauer Straße gelegenen Heldenfriedhof in monumentaler Form
beherrscht. Das Ehrenmal trägt die Namen von 75 Deutschen und 17 österreichischen Bundesgenossen, die in Reichenbachs Erde die letzte Ruhestätte
fanden. Am 13. Juli bedrohte ein
Hauseinsturz in der Breslauer Straße
das Leben der Bewohner und den hier lebhaft flutenden Verkehr. In gefahrvoller
Arbeit wurde durch Abstützen des Gewölbes ein größeres Unglück vermieden und
das Gebäude erhalten. Preissteigerungen und Lebensmittelnot vermehrten die Unruhe
der ärmeren Bevölkerung, und dieser Stimmung bemächtigte sich die Kommunistische Partei. Sie veranstaltete
am 29. Juli eine Demonstration, doch schritt
die städtische Polizei, unterstützt durch die Landjägerei, hiergegen ein,
riegelte die Zugänge zum Marktplatz
ab und verhinderte auf diese Weise jeden Tumult. Der 1. August sei als der Tag festgehalten, an dem der Dollar den Wert
einer Million in „Papiermark“
erreichte. Allerlei Aufkäufer, für die der Volksmund den bezeichnenden Namen „Schieber“ geprägt hatte, zogen die
Erzeugnisse der Landwirtschaft aus dem Kreise. Das Papiergeld reichte nicht
hin, um Zahlungen zu leisten. Schon suchten die Stadt und ihre Industrieunternehmen
dem Übel durch Notgeld zu steuern, das gewiss an Wert nicht schlechter war als
dasjenige der druckeifrigen Reichsbank,
denn schon die nächsten Wochen machten beides zur Makulatur.
Lebensmittelunruhen
am 15. August führten auch in Reichenbach zu einem allgemeinen Streik,
der aber bald beendet wurde. Gefahrdrohender gestaltete sich ein Krawall der
Erwerbslosen am 24. September. Die
auf dem Ringe zusammengeströmte Menschenmenge
ließ eine Plünderung der Geschäfte befürchten. Wieder erwies sich jedoch die städtische
Polizeimacht als zuverlässige Hüterin der öffentlichen Ordnung. Als gütliche
Aufforderungen zum Auseinandergehen nichts halfen, ging der Polizeiinspektor Rückwarth an der Spitze seiner beherzten
Schar mit blanker Waffe gegen die Ruhestörer vor. Es gab mehrere Verletzte, auch
einige Polizeibeamte waren darunter. Endlich wichen die Massen zurück und
konnten vom Ringe abgedrängt werden. Die
größte Gefahr war damit beseitigt, und noch am gleichen Tage wurde die Ruhe
wieder hergestellt. Um der ärgsten Not zu steuern, führte man im Oktober allgemeine Volksspeisungen ein. Neben den ständigen wirtschaftlichen Kämpfen
hatte auch auf weltanschaulichem Gebiet der Widerstreit nicht geruht. Die nach dem
Kriege entstandene weltliche Schule
hatte in dem gewerkschaftlich organisierten Teil der Bevölkerung zahlreiche
Anhänger gefunden, die nach längeren Verhandlungen mit der Regierung die
Einrichtung einer solchen Schule auch in Reichenbach
durchsetzten. Sie eröffnete am 19.
Oktober den Unterricht, zunächst in einigen Räumen der Evangelischen Volksschule II. Von dort siedelte sie später in die Evangelische Volksschule I über.
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Die heutige
Reichenbacher Oberstadt
Ansicht von Südwesten
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Schon machte sich
jedermann im Stillen auf die Geldrechnung in Trillionen gefasst, als in der Mitte des November endlich die Festigung des Geldwertes gelang. Die ersten
Rentenmarkscheine tauchten auf, noch
ehrfürchtig bestaunt als ein Wunder, das nicht für Menschenhand erstanden schien.
Dann wurde es allmählich ruhiger auf dem Geldmarkt. Das neue Geld eroberte sich
langsam das Vertrauen des Volkes. Die unselige Inflationszeit war zu Grabe
getragen. Noch läuteten die Glocken zwar keine fröhliche Weihnacht ein, doch
ein Hoffnungsschimmer stieg am Ende des Jahres 1923 in allen Herzen auf, und jeder gute Bürger wünschte es in der
Silvesternacht dem lieben Nächsten aus vollem Herzen: ein wertbeständiges,
neues Jahr 1924!
Es fing am Neujahrstage mit gewaltigen Schneeverwehungen an. Dann kam die Faschingszeit.
Nach so vielen, schweren Jahren nahmen die Vergnügungen wieder ihren
ungetrübten Verlauf. In diesem Zeichen stand auch das fünfzigjährige Jubiläum des
Männergesangvereins „Arion“ am 16. Januar. Freude war gleichfalls der
katholischen Kirchengemeinde beschieden. Am 20.
April weihte sie die neuen Glocken
der Stadtpfarrkirche ein. Im gleichen
Monat weilte der Reichstagspräsident Löbe
in Reichenbachs Mauern, um für die
bevorstehenden Reichstagswahlen neue Anhänger für die Sozialdemokratische Partei zu werben. Die sichere Währung erwies sich
auch der Pflege der Kunst förderlich. Der Saal der „Sonne“ war überfüllt, als am 29.
April der Gesangverein für gemischten
Chor unter dem Dirigentenstab des Kantors Mattheus und unter der Mitwirkung der Waldenburger Bergkapelle und namhafter Solisten Beethovens berühmte 9. Symphonie zu
Gehör brachte. Die Inflationsjahre fanden ihren Niederschlag in den Reichstags- und Kommunalwahlen am 4. Mai. In der Stadt erhielt die Deutschnationale Volkspartei einen ansehnlichen
Stimmenzuwachs, die übrigen bürgerlichen
Parteien, mit Ausnahme des Zentrums,
sowie die Sozialdemokratie hatten
Wählerverluste zu verzeichnen.
Bisher war Reichenbach die einzige Stadt des Kreises
gewesen. Am 1. Mai wurde auch das
benachbarte Langenbielau, ein städtisches
Gemeinwesen, wie es seiner wirtschaftlichen Bedeutung entsprach. Im Mai vollzog sich ferner die Vereinigung der
alten Bürgerschützenkompagnie mit der
Schützengilde, sodass heute nur noch
diese besteht. Die Fahne der Bürgerschützen,
dieselbe, auf die früher jeder junge Bürger den Eid leisten musste, wurde von
der Gilde übernommen. Nach langjährigem,
verdienstvollem Wirken schied zu dieser Zeit der Pastor prim. Obst von seiner Gemeinde. Er wurde Superintendent in Trebnitz. Von ihm war der Gedanke der
Schaffung des Lutherdenkmals ausgegangen,
den er trotz aller Schwierigkeiten in die Tat umsetzte. Pastor Obst war auch ein hervorragender Kanzelredner.
Als neuer erster Geistlicher trat der Pastor Streckenbach aus Schweidnitz
am 1. Juni in Reichenbach sein Amt an. Neben der Förderung der evangelischen Wohlfahrtseinrichtungen
ließ er sich besonders den Ausbau des kirchlichen Gemeindelebens angelegen sein.
Rege besucht war
die Gemäldeausstellung des Münchener
Künstlerbundes „Ring“ im Kaufmännischen
Vereinshaus während der Septembertage. Am 2. September feierte der Kaufmännische
Verein selbst sein 75-jähriges
Bestehen. Als Begründer der jetzt städtischen Handels- und Berufsschule hat sich der Verein um die Fortbildung
der Kaufmannsjugend hohe Verdienste erworben. Ehe das Jahr 1924 zu Ende ging, mussten die Reichenbacher
noch ein zweites Mal zur Wahlurne schreiten. Am 7. Dezember fanden infolge Parlamentsauflösung Neuwahlen für den Reichstag und Landtag statt. Sie erbrachten in
der Stadt ein Wiedererstarken der Sozialdemokratie,
während die Mittelparteien und die in
Reichenbach in beachtlicher Stärke
vertreten gewesenen Kommunisten
erheblich an Anhängern verloren.
Die Theaterverhältnisse
lagen seit einiger Zeit sehr im Argen. Seit 1920
hatte die Schauspielertruppe der Direktion
Moosbauer in Reichenbach
regelmäßig Veranstaltungen gegeben. Nach anfänglich guten Leistungen waren die
Darbietungen aber im Laufe der Jahre immer mehr gesunken, wozu auch die Inflation
und ihre Auswirkungen auf den Geschmack der großen Menge beigetragen haben
mochten. So war das Interesse der alten Theatergemeinde an dem Unternehmen
langsam geschwunden. Im Jahre 1922 löste
sich dieses Unternehmen auf, und Moosbauer
folgte einem Rufe an das Theater in Ratibor.
Die hierdurch entstandene Lücke im kulturellen Leben der Stadt wurde zu Beginn
des Jahres 1925 in bester Weise durch
den Volksbühnenverein und das für ihn
wirkende Schlesische Landestheater
ausgefüllt, dem die Stadtverwaltung mit einem laufenden Zuschuss die Wege ebnete.
Heute möchten wir das Schlesische
Landestheater, dessen künstlerisch hochstehende Darbietungen in jeder
Spielzeit eine erfreulich zahlreiche Besucherzahl aufweisen, in unserem
heimatlichen Kunstleben nicht mehr missen.
Mehrere hundert
Jahre war das alte Schießhaus vor dem
Breslauer Tore die Heimstätte der Schützengilde gewesen. Lustig hatten
dort Jahr um Jahr beim Pfingst- und
Königsschießen die Büchsen geknallt. Zu Beginn des Februar vollzog sich auch
hier ein Wechsel. Die Gilde kaufte die ehemalige Villa Weiß hinter dem städtischen Sportplatz und schuf sich dort ein prächtiges Eigenheim. Man begann
bald mit der Anlage neuer Schießstände,
doch gelangten diese Arbeiten später zum Stillstand. Sie sind erst in jüngster
Zeit wieder aufgenommen worden. Im alten
Schießhause aber errichtete die Stadt eine Heimstätte für die heranwachsende
Jugend; das städtische Jugendheim,
das in engster Verbindung mit dem angrenzenden Spielplatz steht. Reges Leben brachte die Tagung des Verbandes der Kreisfeuerwehren am 8. Februar in die Stadt. Nun erfüllte sich auch ein seit Längerem
gehegter Wunsch der Feuerwehren. Kreis und Stadt schafften gemeinsam eine Automobilspritze an, die sich inzwischen
oftmals als wirksame und rasche Helferin bewährte. Im Februar fand ferner die Wahl des neuen Stadtbaurats statt, die zu lebhaften Auseinandersetzungen in der
Stadtverordnetenversammlung führte. Mit knapper Mehrheit wurde der Stadtbaurat Erbs aus Patschkau gewählt, der nur wenige Jahre in Reichenbach tätig, in dieser Zeit aber überaus rührig gewesen ist.
In seiner Amtszeit entstanden neben zahlreichen Wohnsiedlungen das imposante Stadtbad sowie die Landwirtschafts- und Berufsschule. Die letzte Arbeit des
Stadtbaurats Erbs war der neue städtische
Siedlungsplan, der mit einem weitschauenden
Wohnungsbauprogramm in Verbindung steht.
Großfeuer brach
in der Nacht zum 1. März in dem
Speicher des Kaufmanns Hans Oppermann
in einem Hinterhause des Ringes aus.
Nach schwierigen Löscharbeiten gelang es der Feuerwehr, die bedrohten
Nachbargebäude zu schützen. Wie überall in Deutschland
wurde auch in Reichenbach die Neuwahl des Reichspräsidenten am 26. April zu einem bewegten Tage. Bis
tief in die Nacht harrte alles mit Spannung vor den Schaufenstern der Zeitungen
aus, bis es feststand, dass der greise Heerführer aus dem Weltkriege durch die Entscheidung des Volkes auf den höchsten Posten
der deutschen Republik berufen worden war. In der Stadt wurden für Hindenburg 4175, für Marx 5052 und für den Kommunisten Thälmann 176 Stimmen abgegeben. Im Vergleich
zu der politischen Schichtung der Bevölkerung ergibt sich hieraus die
interessante Tatsache, dass ein wesentlicher Teil der Wähler aus den
Linksparteien seine Stimme dem Befreier Ostpreußens
gegeben hatte. Gleichzeitig sei an dieser Stelle das Ergebnis der letzten
allgemeinen Volkszählung vom 16. Juni
1925 festgehalten. Reichenbach
zählte 16 305 Einwohner, womit
der Vorkriegsstand der Zählung von 1910
noch nicht ganz erreicht wurde. Von der Bevölkerung waren 7405 männlichen und 8900
weiblichen Geschlechts. Wenige Tage später, am 20. Juni, verlor die Stadt einen bedeutenden Bürger, den
Kommerzienrat Hugo Hilbert, der als
Mitinhaber der weithin bekannten, gleichnamigen Mühlenwerke sich deren Ausbau zu einem vorbildlichen Betriebe zum
Lebenswerk gemacht hatte. Daneben entwickelte er eine segensreiche Tätigkeit
für das Allgemeinwohl und schuf zahlreiche Wohlfahrtseinrichtungen. Fabrikbesitzer
Hilbert war auch ein eifriger
Förderer des Innungswesens und der Freiwilligen
Feuerwehr. In die Zeit seines Wirkens fällt ferner die Begründung einer
eigenen, gut ausgerüsteten Fabrikfeuerwehr.
Zu einem großen
Volksfest gestaltete sich das 75-jährige
Jubiläum des Reichenbacher Kriegervereins am 12. Juli. Nach einer Feldandacht bewegte sich ein nach Tausenden
zählender Festzug, der von mehreren Gruppenbildern durchbrochen war, durch die
Straßen der Stadt. Im Rahmen des Festes fanden Flugveranstaltungen statt, die den Reichenbachern erstmalig Gelegenheit zu Rundflügen über ihrer Heimatstadt gaben. Etwa um die gleiche Zeit
führten die unermüdlichen Bestrebungen der Gebirgsvereine
und der Gemeindeverwaltungen um die
bessere Erschließung des Eulengebirges
endlich zum Erfolg. Die ersten Kraftpostlinien
nahmen den Verkehr nach den Kammbauden
und darüber hinaus bis ins Neuroder
und Waldenburger Bergland auf. Mit
Recht kann sich seit dieser Zeit Reichenbach
als das Tor der heimatlichen Berge bezeichnen. Hier strömen alle Touristen zusammen,
um mit der Eulenbahn oder den ständig
verkehrenden Kraftpostwagen ohne Beschwernis
ins Herz der Gebirgslandschaft zu gelangen.
Als der Herbst nahte, war ein Teil des städtischen
Siedlungsvorhabens auf dem Gelände
zwischen der Schweidnitzer Straße und
der Peile verwirklicht. Ein neues
Stadtviertel war dort im Werden begriffen. Schon wiesen abgesteckte Straßenzüge
die Wege für die weitere Bebauung. Die Hauptzugangsstraße zu diesem Viertel,
der ehemalige Beckerweg, wurde von
den Stadtverordneten in dankbarer
Erinnerung an die mit der älteren Geschichte der Stadt eng verbundene Familie Sadebeck nach deren Namen benannt. Der 26. Oktober bleibt bemerkenswert durch einen
Fortschritt auf dem Gebiete des städtischen Pressewesens. An diesem Tage ging
das „Reichenbacher Tageblatt“ als erste
unter den heimischen Zeitungen zum täglichen Erscheinen über, nachdem der
Verlag zuvor das stattliche Gebäude Ring
Nr. 19, das historische Haus aus den Befreiungskriegen, erworben und es nach
modernsten Grundsätzen seinen Betrieb eingerichtet hatte.
Zahlreich
auftretende Typhuserkrankungen im
Spätsommer hatten zu einer weitgreifenden Beunruhigung geführt, doch besserte sich
mit Eintritt der kälteren Jahreszeit der Gesundheitszustand wieder. Das im Übrigen
für die Entwicklung der Stadt recht ersprießlich gewesene Jahr 1925 schloss mit der Feier des 25-jährigen Bestehens der
Eulengebirgsbahn am 12. Dezember
den Reigen der bemerkenswerten Geschehnisse ab. Bei dieser Gelegenheit erfolgte
die Einstellung eines elektrischen Triebwagens
auf der Gebirgsstrecke der Bahn.
Das neue Jahr 1926 bescherte den Wintersportlern im
Januar viel Schnee, und so tummelten sich die Mitglieder der beiden Reichenbacher
Skivereine „Hohe Eule“ und „Skizunft“ in ihren freien Stunden zumeist
oben auf den schneebedeckten Hängen an der Eulenbaude
und am Kaschbacher Plänel. Die Arbeitslosigkeit
unter der Industriebevölkerung hatte in der Winterzeit wieder zugenommen, weil
die Werke durch die Umwälzungen auf dem Geld- und Handelsmarkt der ganzen Welt
zu Ersparnismaßnahmen gezwungen worden waren, die sich in erster Reihe in einem
Abbau überzähliger Arbeitskräfte auswirkten. Die Stadt machte deshalb den Versuch,
mit den Erwerbslosen sogenannte Notstandsarbeiten
auszuführen. Man begann mit der Herrichtung des vorderen Teiles des Sportplatzes, der nach den Plänen des Stadtbaurats
Erbs in eine Stadionanlage
umgewandelt werden sollte. Die Arbeiten wurden aber infolge Geldmangels bald wieder
eingestellt. Dagegen wurde die neue Sadebeckstraße
ausgebaut. Im Februar erfüllte sich
ein schon immer gehegter Verkehrswunsch. Die erste Kraftpostlinie von Reichenbach
in den Niederkreis, und zwar über Langseifersdorf bis zum Zobten, wurde eröffnet. Am 22. März starb der Fabrikbesitzer Georg Reisinger im Alter von 84 Jahren.
Seine Verdienste um das Allgemeinwohl hatten schon zu seinen Lebzeiten durch
die Verleihung der Würde eines Stadtältesten ihre Anerkennung gefunden.
Als am 1. Mai die evangelische Kirchengemeinde
den Besuch des Generalsuperintendenten D.
Zänker anlässlich der Kirchenvisitation empfing, verband sie damit die
Einweihung ihres neuen, schönen Kinderheims
in der Oberstadt. Die segensreiche Anstalt
ist aus Mitteln der Gemeinde und aus Stiftungen und Sammlungen ihrer Mitglieder
entstanden und legt beredtes Zeugnis von dem Umfang christlicher
Liebestätigkeit in der Neuzeit ab. Ungünstige Absatzverhältnisse führten im Juni zu neuen Entlassungen in der heimischen Webwarenindustrie. Mehrere hundert
Arbeiter wurden dadurch in der Stadt erwerbslos. Hochwasser am 16. Juni richtete besonders in der
Landwirtschaft großen Schaden an. Zu Beginn des August eröffnete die Reichspost
eine neue Kraftwagenlinie, die Reichenbach mit der benachbarten Bergstadt
Nimptsch verband.
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Das neue Stadt- und
Hallenschwimmbad
erbaut 1927 |
Der Gesundheitszustand
der Industriebevölkerung war seit jeher unbefriedigend. Die Arbeit in den
großen Maschinensälen, mochten diese auch mit noch so modernen
Entlüftungsanlagen versehen sein, hatte sich von Geschlecht zu Geschlecht auf
die Gesundheit, besonders auf die Lungen, nachteilig ausgewirkt. Der
Wohnungsmangel und die Unterernährung in den Jahren der Lebensmittelnot taten
ein Übriges dazu, sodass die Tuberkulose
trotz des anerkannt gesunden Klimas der Stadt verhältnismäßig häufig aufgetreten
war. Eine von der Stadt und dem Kreise eingerichtete Fürsorgestelle für Tuberkulosekranke wirkte unter der Leitung des
Arztes Dr. Kordhanke schon seit längerer
Zeit dem Übel entgegen. Im September 1926
trat als neue Wohlfahrtseinrichtung die städtische Liegehalle für lungenkranke Kinder hinzu. Anreger und eifriger
Förderer dieses Werkes war der Bürgermeister Schönwälder gewesen. Auch die Krankenkassen
hatten sich an dem Zustandekommen der Anstalt tatkräftig beteiligt. Die Liegehalle befindet sich abseits vom Verkehr
auf dem Gelände hinter der Rosenbergerschen
Spinnerei. Am 11. und 12. September
stattete der Kardinal Fürst Bischof Dr.
Bertram der katholischen Gemeinde einen Besuch ab und wurde bei dieser
Gelegenheit auch von den Behörden der Stadt feierlich begrüßt. Ein Ereignis für
Reichenbach wurde ferner der erste
hier veranstaltete Flugtag am 31. Oktober. Eine nach Tausenden zählende
Menge verfolgte die Kunstflüge der Luftpiloten und machte von der Gelegenheit
zu Passagierflügen regen Gebrauch. Leider ereignete sich bei einem Geschicklichkeitsflug
ein Absturz, der den Flugzeugführer
das Leben kostete.
Das städtische Gaswerk hatte nach seinem neuzeitlichen
Ausbau einen großen Aufschwung genommen. Allmählich wuchs sein Versorgungsgebiet
über die Grenzen der Stadt hinaus. Durch Fernleitungen wurden die Orte Langenbielau, Peterswaldau, Peilau und Gnadenfrei mit Gas beliefert. Am 1. November erfolgte die Umwandlung des städtischen
Werkes in eine Gesellschaft, deren Mitglieder die beteiligten Gemeinden wurden.
Zwar gab damit die Stadt ihre
früheren Verwaltungsrechte auf, doch verblieb ihr durch die Mitwirkung im Aufsichtsrat ein ausreichender Einfluss
auf die gemeinnützige Gestaltung des Unternehmens. Für die wirtschaftliche
Entwicklung der Gaszentrale war diese Veränderung nur von Vorteil, weil sie
dadurch von dem für kaufmännische Unternehmen oft hemmenden, bürokratischen
Apparat unabhängig wurde. In der Niederstadt
war im Laufe des Herbstes von der Arbeiterwohlfahrt
ein eigenes Jugendheim errichtet
worden, das am 14. November
eingeweiht wurde. Eine Woche später fegte ein Wirbelsturm über Reichenbach dahin, der ganze Dächer
abdeckte und viel Schaden anrichtete. In dem hier geschilderten Jahre hatte die
Stadt die Verbesserung mehrerer Straßen ausgeführt. Die Feldstraße und der vordere Teil der Peterswaldauer Straße wurden mit einer Decke aus Teerasphalt versehen. Die städtische Kläranlage, über deren Geruchsbelästigungen
damals in der Niederstadt sehr geklagt wurde, erhielt im folgenden Jahre einen
dritten Tropfkörper und erfuhr
außerdem durch Vergrößerung der Absatzbecken eine wesentliche Verbesserung. Bei
der Fülle der Fabrikabwässer, welche der Peile
aus fast sämtlichen Industriewerken des Kreises zugeführt werden, blieben
freilich hinsichtlich der Beschaffenheit des Wassers und seiner Ausdünstungen
noch manche Wünsche offen.
Mit einer für
alle Steuerzahler der Stadt freudig begrüßten Nachricht hielt das Jahr 1927 seinen Einzug. Ein
Steuervierteljahr konnte erlassen werden, weil das Aufkommen aus den Gemeindesteuern
infolge der reichlich bemessenen Zuschläge den Geldbedarf überstieg. Seither
war es das Bestreben der Stadtväter, die Belastung ihrer Mitbürger durch Senkung der Steuerzuschläge erträglich
zu gestalten. Diese Sparsamkeitsmaßnahmen zwangen auch zur Aufgabe des Planes,
den vorhandenen Sportplatz in eine Stadionanlage zu verwandeln. Wirtschaftskämpfe,
die in der Textilindustrie ausgebrochen waren, wurden im März durch Lohnerhöhungen
beendet, ohne dass es zu den bereits befürchteten Arbeitseinstellungen kam.
Inzwischen war an
der Neuen Bahnhofstraße ein Bau seiner
Vollendung entgegengegangen, der einen seit Jahrzehnten gehegten Wunsch der
Einwohnerschaft verwirklichte. Nach den Plänen des Stadtbaurats Erbs war dort das Stadtbad entstanden, dessen neuzeitliche Bauformen heute den Bild
jedes Fremden beim Besuch Reichenbachs
unwillkürlich auf sich ziehen. Mit Recht kann die Stadt auf dieses Werk stolz sein,
das gegenwärtig die neueste Anstalt dieser Art im Osten Deutschlands ist. Die feierliche Einweihung erfolgte im Beisein des
Regierungspräsidenten Dr. Jaenicke am
14. März 1927. Gleichzeitig wurde der
Grundstein zu dem Anbau des Hallenschwimmbades
gelegt, das kaum ein Jahr später den Namen der Stadt erneut weithin bekannt
machen sollte; denn abgesehen von der Provinzhauptstadt besitzt Reichenbach im Regierungsbezirk das
einzige, allen Ansprüchen gerecht werdende, Hallenbad.
Der 15. Mai ist der Einweihungstag des städtischen
Heimatmuseums im Jugendheim. Das Museum verfügt über reichhaltige Anschauungsmittel
aus der frühgeschichtlichen Zeit und aus der Geschichte der Stadt selbst. Um sein
Zustandekommen haben sich der Konrektor Wilhelm
und der Lehrer Lengsfeld besonders
verdient gemacht. Bereits im Vorjahre war im neuen Stadtviertel an der Sadebeckstraße eine Reihe von Einfamilienhäusern entstanden, die von
der Gemeinnützigen Aktiengesellschaft für
Angestellten-Heimstätten aufgeführt worden waren. Im Sommer 1927 wurden weitere zwölf dieser Eigenheime erbaut. Seit altersher hatte die
Stadt unter den fast alljährlich auftretenden Ausuferungen der Peile zu leiden. Das Hochwasser vom 16. und 17. Juli aber wird noch lange in
besonders deutlicher Erinnerung bleiben. Infolge anhaltender Regengüsse trat
die Peile aus ihren Ufern und überschwemmte
besonders die Gansau, die Klinkenhausstraße und weite Strecken der
Niederstadt. Ohnmächtig musste man
dem Treiben der entfesselten Naturgewalt zusehen. Der Hochwasserstand des
Jahres 1883 wurde noch überschritten.
Besonders hart wurde die Landwirtschaft in der Peileniederung betroffen. Staat und Provinz halfen den Geschädigten,
und wenn diese Hilfe auch in vielen Fällen unzureichend blieb, so scheint es doch,
als wenn die große Überschwemmung die maßgebenden Stellen der Landesverwaltung
von der Notwendigkeit überzeugt hat, für den Hochwasserschutz der Stadt und der
übrigen Anlieger etwas Durchgreifendes tun zu müssen.
Nach zweijähriger
Pause wurde am 11. September ein Kreisjugendtag abgehalten, der am
Vorabend mit einem Fackelreigen
eröffnet wurde. Die Beteiligung an den Wettkämpfen war sehr stark und legte
beredtes Zeugnis ab von dem Streben der einheimischen Jugend nach körperlicher Ertüchtigung.
Im Herbst erhielt endlich auch die
katholische Stadtpfarrkirche ihr volles
Geläut wieder. Am 30. Oktober erfolgte die feierliche Einholung und Weihe der neuen Glocken.
Das Hauptereignis des Novembers bildete die große Gesundheitsausstellung „Mutter und Kind", um deren Zustandekommen
sich der Kreisarzt Dr. Engel im
Verein mit den Krankenkassen besonders
verdient gemacht hat. Mehr als 7000 Besucher
der Ausstellung und der damit verbundenen Vortragsabende wurden während der zehn Darbietungstage gezählt, ein Beweis
für die Anteilnahme der Bevölkerung und für den Umfang der geleisteten
Aufklärungsarbeit. Das Bahnbauprojekt Neurode—Reichenbach—Heidersdorf
war in den verflossenen Jahren von den wirtschaftlich interessierten Kreisen
mit neuem Eifer verfolgt worden. Vorschläge zu einer Durchtunnelung des Eulengebirges auf der Strecke von Steinkunzendorf nach Hausdorf tauchten auf. Am Jahresschluss war jedoch auch
dieser Plan daran gescheitert, dass die Reichsbahn
den Bau wegen der hohen Kosten ablehnte, die eine Wirtschaftlichkeit des
Unternehmens zweifelhaft machten. Verhandlungen im Reichstag blieben erfolglos. Das Scheitern dieser Bahnlinie ist für
Reichenbach und die heimische Industrie
sehr zu bedauern. Zweifellos hätte eine solche Verkehrsverbindung mit dem
unmittelbar jenseits des Gebirges gelegenen Neuroder
Kohlenbecken den wirtschaftlichen Aufstieg Reichenbachs gefördert und gleichzeitig eine Verkürzung des
Schienenweges nach Breslau mit sich
gebracht.
Das Jahr 1928, mit dem diese Chronik endet, war
reich an Ereignissen, vornehmlich an solchen, deren Auswirkungen sich wohl erst
in der näheren oder ferneren Zukunft Reichenbachs
zeigen werden.
Zu einer in gleichem
Ausmaß seltenen Huldigung gestaltete sich der 50. Geburtstag des Landrats Grafen von Degenfeld-Schonburg am 5. Februar. Bereits am Vorabend bewegte
sich ein stattlicher Fackelzug, der
von den Feuerwehren des Kreises
dargebracht wurde, durch die Straßen bis zum Wohnhaus des Jubilars, der seit 1913 in guten und schlimmen Tagen die Geschicke
des Kreises mit sicherer Hand und klarem Blick für alle wirtschaftlichen und sozialen
Zeitbedürfnisse leitete. Mannigfache und enge Beziehungen verbinden den Landrat seit vielen Jahren mit der Kreisstadt
und ihrer Bürgerschaft. Es war deshalb den Verdiensten des Gefeierten angemessen,
dass ihm an diesem Tage neben anderen Ehrungen auch die Repräsentanten der
Stadt durch Widmung einer sinnigen Festgabe ihre Wertschätzung bekundeten. Eine
Woche später rüstete Reichenbach sich
schon wieder zu einer Feier von Bedeutung. Am 12. Februar wurde das dem Stadtbad
angegliederte Hallenschwimmbad seiner
Bestimmung übergeben. Mit Recht kann die Stadt auf diese Anstalt, die modernste
in Ostdeutschland, stolz sein. Das
bewiesen schon die anlässlich der Einweihung veranstalteten Schwimmwettkämpfe, die aus ganz Schlesien Teilnehmer in der Eulengebirgshauptstadt
zusammenführten; sie alle waren des Lobes voll über die mustergültige Anlage.
Seither ist das prächtige Hallenbad nicht nur von den zahlreichen Wasserfreunden
der Stadt, sondern auch aus weiter Umgegend oft und gern besucht worden und sah
bereits mehrfach größere Wassersportfeste in seinen Mauern.
Unter der
Wohnungsnot der Nachkriegszeit hat Reichenbach
als Industriestadt besonders zu leiden. Trotz reger privater und vor allem städtischer
Bautätigkeit blieb ein Mangel an
Kleinwohnungen bestehen, auch die Unterbringung der zahlreicher gewordenen
Behörden und anderer Verwaltungsstellen ließ manchen Wunsch offen. Bevor der
Stadtbaurat Erbs aus seiner hiesigen
Tätigkeit schied, hinterließ er deshalb im Frühjahr 1928 der Stadt in einer Denkschrift einen nach neuesten städtebaulichen
Gesichtspunkten aufgestellten Bauzonen-
und Siedlungsplan, ein Werk, das für die Zukunft ein Wegbereiter sein soll und
das neben vielem anderen auch einen Wunsch berücksichtigt, der in den letzten
Jahrzehnten wegen der Ungunst der Wirtschaftsverhältnisse unerfüllt bleiben
musste: das Bedürfnis nach Schaffung neuer
Grünflächen. Denn längst genügt die an sich vorbildliche Promenade auf den alten Stadtwällen nicht mehr allen Ansprüchen.
Neue Spazierwege in nächster Umgebung des bebauten Stadtbezirks sind notwendig,
um das heute gesteigerte Verlangen nach einer bequem erreichbaren Erholungsstätte
zu befriedigen.
Mehrfaches Unheil
brachte das Ende des Frühjahrs über Reichenbach.
Nach zwei Bränden am Anfang des April
fegte am 17. des gleichen Monats ein
gewaltiger Schneesturm über die Stadt
dahin und verursachte bald danach Hochwasser,
das aber glimpflich ablief. Dafür bedrohten zu Beginn des Mai die in der
Textilindustrie von Neuem ausgebrochenen Lohnkämpfe
das Wirtschaftsleben. Sie wurden jedoch durch einen Schiedsspruch beigelegt. Bereits in den Vorjahren hatte die Stadt
unter Hochwasserschäden zu leiden. Auch in diesem Jahre blieb sie davon nicht
verschont. Am 27. Mai, dem ersten
Pfingstfeiertage, führten starke Regengüsse ein rasches Steigen der Peile herbei. Die Klinkenhaus- und Neudorfer
Straße wurden überschwemmt. An mehreren Stellen musste die Feuerwehr zu Hilfe eilen, so auch im
Hotel „Kaiserhof“, dessen unterste
Räume überflutet waren und leer gepumpt werden mussten. Größere Überschwemmungen
suchten ferner die Gansau und die Niederstadt heim, in der ein Bewohner
ertrank. Zum Glück verlief sich diesmal das Wasser verhältnismäßig schnell, doch
setzte bald danach starker Frost ein,
welcher der Baumblüte und den Gärtnereien großen Schaden zufügte. In der Folge
besuchten der Landeshauptmann und mehrere Abgeordnete das Hochwassergebiet, und
nach den letzten drei Katastrophenjahren gewinnt der Plan des Hochwasserschutzes durch Schaffung von Staubecken gegenwärtig bereits festere
Gestalt.
Nach Überwindung
zahlreicher Schwierigkeiten hatten es die städtischen Körperschaften, unterstützt
durch weite Kreise der Bevölkerung, zu Beginn des Jahres durchgesetzt, dass der Ausbau des Lyzeums in ein Oberlyzeum
endlich zur Tat wurde. Die neue Vollanstalt, deren Besuch jetzt den Töchtern Reichenbachs die Berechtigung zum Hochschulstudium
verschafft, wurde am 1. April 1928
eröffnet und ist nach erfolgter Vermehrung des Lehrkörpers und der Schulausstattung,
die auch eine bauliche Erweiterung nötig machte, zur Zeit im Aufbau begriffen. Um
die Entwicklung der Anstalt zu ihrer heutigen Form hat sich ihr früherer
Leiter, Studiendirektor Nahrstedt,
ein Verdienst erworben. Zwei Einweihungsfeiern konnte die evangelische Kirchengemeinde im Sommer begehen. Am 24. Juni übergab sie die neue Begräbniskapelle auf dem Friedhofe in
der Oberstadt und am 1. Juli ein Kinder- und Jugendheim in der Niederstadt ihrer Bestimmung. Hochherzige
Spenden hatten den Bau dieser beiden Anstalten ermöglicht.
Viele Tausende
auswärtiger Besucher strömten in den ersten Augusttagen auf dem Gelände längs
der Dreißighubener Chaussee in der Schweidnitzer Vorstadt zusammen, auf dem
der weltbekannte „Zirkus Sarrasani“ seine
mächtigen Zelte aufgeschlagen hatte. Das rege Leben, das sich in diesen Tagen
in der Stadt abwickelte, brachte auch der heimischen Geschäftswelt einen verstärkten
Warenabsatz. Nach dem Fortgang des Stadtbaurats Erbs hatte der Stadtingenieur Grammel
die in Angriff genommenen Bauten, besonders den Bau der großen Landwirtschafts- und Berufsschule, mit
Tatkraft und Umsicht weitergeführt. Zum Nachfolger des Stadtbaurats war dann am
12. Juli der Diplomingenieur Krackow gewählt worden. Ein reiches
Arbeitsfeld, in vielem von seinem Vorgänger vorbereitet und begonnen, wartet seiner
in Reichenbach; denn von der
baulichen Entwicklung der Stadt wird unzweifelhaft auch ein gutes Teil ihrer
wirtschaftlichen Zukunft abhängen. Sommer und Herbst standen deshalb im Zeichen
erhöhter städtischer Bautätigkeit. Auf dem neugeschaffenen „Freiherr-vom-Stein-Platz" an der Fraegerstraße (Frägerstraße) wuchs neben der bereits genannten Fachschule
ein neuer Wohnhausblock empor. Die Bertholdsdorfer
Straße, auf der sich der Verkehr nach Breslau
abwickelt, erhielt auf der Strecke vom Ausgang der Innenstadt bis zur Gaststätte
„Schützenhof“ anstatt der Chaussierung ein dauerhaftes, sauberes Kleinpflaster und einen Fußgängersteig. Daneben hatte der Arbeiter-Wohnungsbau-Verein in der Niederstadt zwei neue Häuser mit
Kleinwohnungen fertiggestellt — auch einige Privatleute schufen sich
Eigenheime, so besonders im neuen Wohnviertel an der Sadebeckstraße.
Seit dem Bau der Eulengebirgsbahn war Reichenbach noch stärker als früher zum
Ausgangspunkt des Touristenverkehrs in die nahen Berge geworden. Mit gutem
Recht kann sich die Stadt als das Tor des Eulengebirges
bezeichnen. Um dieser Lage und Bestimmung in weitester Öffentlichkeit Geltung
zu verschaffen, wurde die alte postalische Bezeichnung „Reichenbach in Schlesien“ am 15.
September mit behördlicher Genehmigung in „Reichenbach (Eulengebirge)" umgeändert. Damit ist zugleich
den häufig vorgekommenen, unliebsamen Verwechslungen mit anderen gleichnamigen
Orten Deutschlands für die Zukunft vorgebeugt worden.
Das 50-jährige Jubiläum des Realgymnasiums
„König-Wilhelms-Schule“ war in die
Kriegszeit gefallen und deshalb nur in aller Stille begangen worden. Umso festlicher
feierten die zahlreichen, ehemaligen und jetzigen Schüler der Anstalt am 23. September das 60-jährige Bestehen der Schule, die einst von der Stadt ins Leben
gerufen und später vom Staat übernommen wurde. Eine dauernde Erinnerung an dieses
Jubiläum wird die ansehnliche Spende der Stadt und des Kreises bleiben, die im
Verein mit früheren Schülern der Anstalt eine Stiftung von 12 000 Mark zur Unterstützung bedürftiger Schüler schufen. Am Anfang
des Oktober war Reichenbach
Tagungsort des Kongresses des Schlesischen Schachbundes und sah bei
den veranstalteten Turnieren die großen Meister dieses Brettspiels aus der Heimatprovinz
und aus dem benachbarten Deutschböhmen
bei sich zu Gaste. Im Oktober wurde
die Stadt der Sitz einer neuen Behörde. Das für die Kreise Reichenbach und Frankenstein
errichtete Arbeitsamt nahm zu dieser
Zeit seine Tätigkeit auf. Es wird im kommenden Jahre seine Amtsräume in der
umgebauten, ehemaligen Hefefabrik an
der Peterswaldauer Straße beziehen.
Zur gleichen Zeit hat die Stadtverwaltung mit den Vorarbeiten für die Einrichtung
eines eigenen Stadtarchivs begonnen,
um dessen Zustandekommen sich neben dem Bürgermeister Schönwälder und dem Bürodirektor Müller besonders der heimatkundliche Erforscher der Ortsgeschichten
des Kreises, Lehrer Hans Walther in Schobergrund, verdient gemacht hat. Für
seine Mitarbeit beim Zusammentragen der Quellen für die vorliegende Arbeit sei ihm
auch an dieser Stelle der Dank ausgesprochen. Mehr denn je tut in unserer raschlebigen
Zeit Heimatkunde und -pflege, doppelt, aber in einer geschichtlich so reichen
und bedeutsamen Stadt, wie es das alte deutsche Reichenbach ist.
Eine Pflegestätte
tüchtiger Bürgertugenden war durch so manches Jahrhundert die Schützengilde gewesen, und deshalb ist
es allseitig freudig begrüßt worden, dass sich die Gilde noch vor dem Abklingen
dieses letzten Chronikjahres dazu entschlossen hat, die bereits vor längerer
Zeit begonnenen Schießstände im kommenden
Jahre vollständig auszubauen. Bald werden also nun in dem schönen, neuen Heim
der Schützen die Büchsen wieder lustig knallen, und damit wird wieder einer der
alten Bräuche fortleben, in denen oft ein höherer Sinn liegt, als es äußerlich
scheinen möchte: die Pflege des Gemeinsinns und der Zugehörigkeit zu einer
engeren Schicksalsgemeinschaft, ein Volksgut, das wir in unserer heutigen,
allzu stürmisch drängenden, Zeit vielfach schmerzlich missen.
Als letztes
bedeutsames Ereignis, das jetzt auch schon der jüngsten Vergangenheit Reichenbachs angehört, sei der am 10. November 1928 erfolgten Einweihung
der Landwirtschafts- und Berufsschule
auf dem neuen „Freiherr-vom-Stein-Platz“
gedacht. Dort haben nunmehr diese für Stadt und Kreis gleich wichtigen Fach- und Fortbildungsschulen eine
eigene, ideale Heimstätte gefunden, in der zur Zeit etwa 120 junge Landwirte und über 800
Berufsschüler ihre Ausbildung erhalten. In der Berufsschule, die gleichzeitig Fachschule
ist, wurde die bisherige gewerbliche und
kaufmännische Fortbildungsschule mit der städtischen Handelsschule und einer höheren
Handelsschule in zweckvollster Weise vereinigt. Ein selbständig tätiger
Lehrkörper von Fachschulleuten gibt dort der heranwachsenden Jugend das Rüstzeug
für den späteren Lebensberuf. Die von Kreis und Stadt gemeinsam erbaute Lehranstalt
reiht sich so den anderen, zahlreichen Bildungsstätten Reichenbachs würdig an, den alten, guten Ruf der Stadt auf diesem
Gebiete neu verkündend. Mit der Fertigstellung der an die Schule angegliederten
Turn- und Festhalle ist die Stadt um
einen ansehnlichen Versammlungsraum reicher geworden. Prächtige Malereien des heimischen Kunstmalers Kurt Arendt gereichen der Anstalt und der Halle zur besonderen
Zierde.
„Wer die Jugend hat, hat die Zukunft!" Möge dieses Losungswort für Reichenbach, den betriebsamen
Mittelpunkt des Eulengaues, immer
Geltung finden, und möge diese Zukunft eine glückhafte und segensreiche sein!
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Die neue
Landwirtschafts- und Berufsschule am „Freiherr vom Stein-Platz“, erbaut 1928
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Rekonstruktion und Anpassung an neue Rechtschreibregeln: Marcin Perliński (2025)
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