Die Blindschleiche oder der Haselwurm
(von L. Sturm)
„Eine Blindschleiche! Eine Blindschleiche!“ So schrien die Jungen, als sie sahen, wie eine Blindschleiche über den Weg schlängelte. Das Tier mochte nichts Gutes ahnen; denn es suchte sich schnell in Sicherheit zu bringen. Aber die Jungen waren schneller als das geängstigte Tier und schlugen mit Knütteln auf dasselbe ein. Ein heftiger Schlag traf das arme, unschuldige Tier und in zwei Teilen lag der tote Körper auf dem Wege zum Ärger der vorübergehenden Wanderer.
„Wir haben eine Blindschleiche gesehen!“, erzählten sie daheim.
„Habt ihr sie auch am Leben gelassen?“, fragte der Vater.
Die Kinder schwiegen.
„Gewiss habt ihr das arme Tier getötet? Ich sehe es euch schon an. Da habt ihr aber ein großes Unrecht begangen; denn die Blindschleiche ist gar kein gefährliches Tier. Leider aber ist die Ansicht verbreitet, das die Blindschleiche eine gefährliche Schlange sei. Aber sie ist gar keine Schlange, sondern gehört zu den Echsen. Da sie aber fußlos ist, muss sie sich wie eine Schlange fortbewegen. Und blind ist sie auch nicht, sondern sie besitzt zwei klare, helle Augen und sieht sehr gut. Die Augen sind mit einer Nickhaut und Lidern versehen. Sie liebt die Sonnenwärme und daher trifft man sie oft an sonnigen Waldrändern und auf sonnigen Waldwegen. Im Oktober, wenn es kalter wird, zieht sie sich in ihren unterirdischen Bau zurück und hält in Gesellschaft von 20—30 von ihresgleichen einen Winterschlaf. Ihre Lieblingsnahrung sind Acker- und Gartenschnecken, Regenwürmer, Insekten und deren Larven. Diesem Ungeziefer spürt sie eifrig nach. Durch Vertilgung der schlimmsten Pflanzenverwüster erweist sie sich äußerst nützlich und daher muss die Blindschleiche geschont werden. Man kann sie ohne Gefahr in die Hand nehmen; sie verwundet nicht und ist nicht giftig. Aber sie hat viele Feinde, namentlich unter den Raubvögeln. Ihre schlimmsten Feinde aber sind die unwissenden Menschen, die sie für schädlich halten. Auch ihr habt durch euer Verhalten gezeigt, dass ihr zu den unwissenden Menschen gehört.“
In dieser Weise belehrte der Vater seine Kinder und hat sich dadurch als Beschützer der heimischen Tierwelt gezeigt.
Quelle: „Der Eulengebirgsfreund“, 4. Jahrgang, Nr. 7 vom 1. Juli 1911, Seite 53
Texterkennung und Anpassung an neue Rechtschreibregeln: Marcin Perliński (2025)

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