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13. Abschnitt
Reichenbach im Weltkriege
Mobilmachung! Krieg!
Zwei Worte nur, doch inhaltsschwer! Mit fieberhafter Spannung hatte jedermann das geschäftige Treiben der Diplomaten seit den Tagen von Sarajevo verfolgt. In der Werkstatt und am Biertisch, in den Versammlungen und daheim, überall war nur eine bange Frage erörtert worden: Wohin wird sich das Zünglein der Waage neigen? Gruppen standen am 31. Juli auf dem Ringe beieinander und warfen hin und wieder Blicke zum Kreishause hinauf oder eilten an die Schaufenster der Tageszeitungen, wo in wechselnder Folge immer neue Telegramme zum Aushang gelangten. Russland machte mobil! Und Deutschland? Bald sollte allen Harrenden Gewissheit werden. Große gelbe Anschläge am Kreishaus verkündeten in den Nachmittagsstunden die Erklärung des drohenden Kriegszustandes. Vierundzwanzig Stunden später erschienen die bekannten roten Plakate in der alles sagenden Überschrift: Mobilmachung! Der Alpdruck löste sich. Wohlan dann! Die Würfel rollten. Bald belebten Kraftfahrzeuge den Marktplatz. Sie trugen in Eile die Kunde überallhin auf die Dörfer. Fahnen flatterten im sommerlichen Wind. Aus den Gruppen Umherstehender bildeten sich Umzüge, voran die Jugend. „Die Wacht am Rhein“ erklang wie vor 44 Jahren durch die Straßen. Begeisterung und Zuversicht auf den Sieg der deutschen Waffen tönten aus jeder Rede, aus jedem Lied wieder. Dann senkte sich die Nacht auf die Unrast des Tages nieder, und in so mancher Familie machte die hell lodernde Kampfesstimmung ernstem Nachdenken über die nächste Zukunft Platz. Väter, Brüder und Söhne rief nun das Kriegsschicksal zu den Waffen, hinaus in den entfachten Weltenbrand.
In den nächsten Tagen überstürzten sich die Ereignisse. Kriegserklärungen von hüben und drüben folgten einander Schlag auf Schlag. Erst Russland, dann Frankreich und Belgien, und dann auch England. Feinde ringsum, in Ost und West! Wilde Gerüchte durcheilten Reichenbach ebenso wie andere Orte Deutschlands. Man witterte überall Spionengefahr, fahndete nach sagenhaften Automobilen mit Goldschätzen, sah in winzigen Wolkengebilden die gefürchteten Bombenflieger. Man bestürmte die Sparkassen in Sorge um das dort verwahrte Geld. Die Mehlpreise stiegen. So verliefen die ersten Kriegstage im Banne urgewaltiger Umwälzungen, denen sich niemand zu entziehen vermochte.
Dann wurde es ruhiger. An die Stelle der Unrast und scheinbaren Planlosigkeit trat das zielbewusste Ineinandergreifen der tausend Rädchen einer riesenhaften Maschine, deren lebendige Triebkräfte ein ganzes Volk, ein Volk in Waffen, waren. Die beiden Krankenhäuser, die Villa des früheren Bankiers von Einem am Bahnhof und das Hotel „Kaiserhof“ wurden als Lazarette eingerichtet, die Säle in der „Sonne“ und im „Stern“ als Massenquartiere für den gleichen Zweck vorbereitet. Helfer und Helferinnen taten unermüdlich Dienst auf dem Bahnhof, durch den fortgesetzt lange Züge mit Truppen und Kriegsgerät rollten. In Scharen strömte die männliche Jugend zu den Fahnen, bereit, als Kriegsfreiwillige ihr Blut für das Vaterland hinzugeben. Die oberen Klassen des Gymnasiums waren bald verödet; keiner wollte weiter die Schulbank drücken, und gesenkten Hauptes ging derjenige einher, der als untauglich zurückgestellt worden war. Anders die altgedienten Soldaten der Reserve und der Landwehr. Viele mussten Weib und Kind daheim zurücklassen. Schwerer wurde ihnen der Abschied, wenn tränenfeuchte Tüchlein am Bahnhof letzte Grüße zuwinkten. Was half’s? Eisern war das Muss der Stunde, und so zogen sie hinaus, ernst und doch zuversichtlich, mit Blumen geschmückt und begleitet von heißen Wünschen und Hoffnungen auf ein baldiges Wiedersehen.
Dann kamen die ersten Nachrichten von den Kriegsschauplätzen. Die Extrablätter wurden den Austrägern aus den Händen gerissen. Sieg auf Sieg kündeten sie. Fahnen flatterten überall von den Dächern, begeisterte Lieder erschollen. Aber sorgenvoll versenkten die, deren Brüder und Väter draußen vor dem Feind standen, ihren Blick in die langen Verlustlisten, und in den Siegestaumel mischten sich die ersten Seufzer und Tränen der Mütter und Gattinnen. Zu freudiger Aufregung eilte am 31. August alles zum Bahnhofe. Zwei Züge mit 4000 gefangenen Russen kamen durch. Dann stand die erste Trauerkunde schwarz umrahmt in der Zeitung. Am 25. August war der Gutsbesitzer Arthur Thasler als Unteroffizier der Reserve auf Frankreichs Schlachtfeldern gefallen; der erste Tote aus der großen Zahl von Reichenbachs Söhnen, die nicht mehr die Heimatstadt wiedersehen sollten. Und bald verkündeten auch die Zeitungen die Namen jener, die wegen besonderer Tapferkeit mit höchster Kriegerehre, dem Eisernen Kreuz, belohnt worden waren. Als Erster aus Reichenbach erhielt diese Auszeichnung der Ingenieur Paul Näfe, ein Sohn des Gutsbesitzers Julius Näfe. Eifrig wurde für das Rote Kreuz und für die Hinterbliebenen der Krieger im Felde gesammelt. Als im September zur Zeichnung der ersten Kriegsanleihe aufgerufen wurde, kamen in der Stadt anderthalb Millionen Mark zusammen. Arm und Reich hatten ihr Scherflein zum Altar des Vaterlandes gebracht. Im Oktober schied, von vielen Seiten geehrt, der langjährige Leiter des Gymnasiums, Geheimrat Dr. Weck, aus dem Dienst. Sein Nachfolger wurde der Direktor Dr. Blümel, der im weiteren Kriegsverlauf nach Bukarest als Schulrat der Schulanstalten der deutschen evangelischen Gemeinde berufen wurde.
Ein trauriger Zug bewegte sich am 14. Oktober vom Bahnhof zur Stadt. Der erste Verwundetentransport traf ein und wurde in den bereitgestellten Lazaretten, teilweise auch in der „Sonne“ und im „Stern“, untergebracht. Der „Kaiserhof“ diente zur Aufnahme verwundeter Offiziere. Vierzehn Tage später brachte ein anderer Lazarettzug wiederum eine große Zahl Schwerverwundeter in die Stadt, zumeist Österreicher und Ungarn. Bald hielt unter ihnen allen der Tod seine Ernte. Aus diesem Anlass fasste der Magistrat den Entschluss, einen Ehrenfriedhof anzulegen, auf dem Freund und Feind eine würdige, letzte Ruhestätte finden konnten. Schon zu Anfang des November begann man mit der Einrichtung des Begräbnisplatzes, der an der Breslauer Straße dem Sportplatz gegenüber liegt. Mehrere Söhne Reichenbachs sind in den Kriegsjahren dort in heimatliche Erde gebettet worden; neben ihnen ruhen tote Krieger aus allen Gauen Deutschlands und Österreichs, und — der Tod vereint Freund und Feind — auch die in den Lazaretten verstorbenen Russen liegen hier bestattet.
Das erste Kriegsjahr neigte sich dem Ende zu, ohne dass jemand voraussagen konnte, ob das folgende den Frieden bringen würde. Schon machten sich Vorboten der harten Zeiten bemerkbar, die in der ferneren Zukunft auch die wohlbeschützte Heimat bedrohen sollten. Die Lebensmittelpreise waren gestiegen. Noch bestand kein allgemeiner Mangel, doch die ärmere Bevölkerung der Reichenbacher Industrie begann schon damals unter der eingetretenen Teuerung zu leiden. Hier halfen die wohlhabenden Kreise durch Unterstützung mit Lebensmitteln und Geld. Ebenso zahlreich waren die Liebesgaben, die ihren Weg von Reichenbach nach den Kriegsschauplätzen nahmen. Immer wieder berichteten Briefe und Veröffentlichungen in den Zeitungen von dem Dank der Krieger. Nicht minder wurde der Insassen der Lazarette gedacht, die besonders bei der Weihnachtsfeier reichlich beschenkt wurden. Am Jahresschluss zählte die Stadt 16 245 Einwohner. Schon machten sich auch hier die Lücken bemerkbar, die der Krieg riss. Endlos waren die Verlustlisten, für deren Bekanntgabe durch Anschlag längst der Platz an den schwarzen Tafeln nicht mehr ausreichte.
Der Beginn des zweiten Kriegsjahres 1915 bescherte den Reichenbachern das K-Brot, das ganz Deutschland während der nächsten Jahre in immer schlechterer Verarbeitung mit Kartoffelzusatz treu bleiben sollte. Die Brot- und Mehlkarte hielt nun ihren Einzug. Etwa zu gleicher Zeit wurde in der Stadt die Jugendwehr gegründet. Am 1. Februar bekam Reichenbach wieder, was es im Jahre 1890 verloren hatte: eine Garnison. Zwei Rekrutendepots des Landwehrbataillons Nr. 10 in Stärke von 850 Mann bezogen in der Stadt Quartier. Bald entfaltete sich auf dem Exerzierplatz an der Peterswaldauer Straße das aus früherer Zeit gewohnte soldatische Leben. Häufig passierten Transporte kriegsgefangener Russen die Stadt. Am 2. März trafen 200 Verwundete, diesmal aus der Karpatenschlacht, in den Lazaretten ein, und schon am 28. März zog ein Teil der Garnison nach erfolgreicher Ausbildung ins Feld. Unablässig machte die Teuerung Fortschritte. Im Mai mussten die Fleischer den Verkauf ihrer Ware vorübergehend einstellen. Alles stand im Zeichen der Kriegsgeschehnisse. So konnte der am 30. Mai einberufene außerordentliche Verbandstag der Eulengebirgsvereine sich nur mit den dringlichsten Aufgaben beschäftigen und musste alle anderen Angelegenheiten bis zum Frieden zurückstellen. Als am 18. Juli erneut 350 Verwundete in Reichenbach ausgeladen wurden, trat empfindlicher Platzmangel ein. Alle irgendwie Transportfähigen mussten die Lazarette räumen und ihrer pflegebedürftigeren Kameraden die Lagerstätten freimachen. Dazu brachte der 8. August ein Hochwasser, das nur wenig hinter dem von 1903 zurückblieb und große Überschwemmungen hervorrief. Schwerer noch als dieser Unglücksschlag wirkten sich für die heimische Industrie die kriegswirtschaftlichen Einschränkungen in der Baumwollverarbeitung aus. Nur ein Drittel der bisherigen Fabrikationsmengen durfte noch verarbeitet werden. Die Folge war eine rasch zunehmende Zahl Arbeitsloser, für deren Unterhaltung die Stadt mit staatlicher Unterstützung aufzukommen hatte. Im Herbst trat Mangel an Butter und Milch ein. Schon musste man sich in vielen Haushaltungen mit Margarine behelfen. Ein zweites Hochwasser am 2. Oktober vermehrte die im Sommer entstandenen Schäden. Im November wurde auch der Fleischverbrauch eingeschränkt, und zwei fleischlose Tage brachten zwangsläufig die alten Fastzeiten wieder.
Eine hochherzige Spende war dem St. Josef-Krankenhaus zugefallen. Der Rentier Johannes König vermachte diesem Institut und zugleich dem Waisenhaus und anderen katholischen Wohlfahrtseinrichtungen ein Kapital von 100 000 Mark. Unter den Reichenbacher Feldgrauen hielt der Tod im Jahre 1915 reiche Ernte. Nicht weniger als 65 Söhne der Stadt mussten auf den blutigen Schlachtfeldern im Osten und Westen ihr Leben hingeben. Trauer war bei zahlreichen Familien eingekehrt. Schwer lastete die Not der Zeit auf jedermann. Am 21. November, dem Totensonntag, vermochte die evangelische Kirche die 2000 erschienenen Besucher kaum zu fassen. Und als die Silvesterglosen das alte Jahr zu Grabe läuteten, hörte man diesmal draußen auf den Straßen und Plätzen keinen ausgelassenen Jubel und Lärm. Still schritt jeder seiner Behausung zu, tief im Herzen die bange Frage: Wie lange noch?
Es entsprach dem Ernst der Zeit, dass die früher gern mit frohen Festen begangenen Jubiläen jetzt in aller Stille gefeiert wurden. So geschah es auch bei dem 25-jährigen Jubiläum des Baugeschäfts Robert Klatt am 12. Januar 1916. Auf eine Zeit schaffensreichen Wirkens konnte diese Firma zurückblicken, in der seit Längerem auch der Bruder des Begründers, Baumeister Georg Klatt, mit Erfolg wirkte. Viele der größeren Bauten in Reichenbach in den letztvergangenen Jahrzehnten geben Zeugnis von den Leistungen dieses Unternehmens. Bauliche Zwecke verfolgten auch die Beschlüsse der Stadtverordneten am 2. Februar. Nach ihnen sollte das in der Frankensteiner Vorstadt vorhandene Siedlungsland der Schlesischen Landgesellschaft zum Zwecke von Kleinsiedlungen teilweise überlassen werden.
Die wiederholten Verkürzungen der Brotverbrauchsmengen riefen in der notleidenden Arbeiterschaft steigende Beunruhigung hervor. Am 14. Februar erschien vor dem Reichenbacher Kreishaus eine größere Volksmenge als Begleitung einer Abordnung aus Langenbielau, die bei dem Landrat ihre Klagen über die unzureichende Lebensmittelversorgung vorbrachte. Es war für die Behörden nicht leicht, allen diesen Nöten wirksam abzuhelfen, aber der Landrat Graf von Degenfeld ruhte nicht eher, bis wenigstens dem schlimmsten Mangel gesteuert war. Die Stadt kaufte zur gleichen Zeit das Thaslersche Gut an der Schweidnitzer Straße, um aus dessen Erträgen für die Versorgung der am schwersten bedrohten Familien, besonders aber für die kleinen Kinder etwas tun zu können.
Die Bevölkerungszahl blieb weiter im Sinken. Im April zählte man nur noch 15 965 Einwohner. Als im Frühjahr der Reichstagsabgeordnete August Kühn starb, musste im Wahlkreis Reichenbach-Neurode eine Extrawahl vorgenommen werden. Sie vollzog sich am 23. Juni 1916 im Zeichen des parlamentarischen Burgfriedens und ergab die Wahl des sozialdemokratischen Kandidaten Hermann Müller aus Tempelhof, der später im politischen Leben Bedeutung erlangte und gegenwärtig das Amt des deutschen Reichskanzlers bekleidet. Die Beteiligung der Wähler betrug nur ein Achtel von der des Jahres 1912, denn die meisten Stimmberechtigten weilten im Felde. Am 1. September wechselte die Garnison. Anstelle der 10-er kamen Rekrutendepots des Infanterie-Regiments Nr. 11 in die Stadt. Die Zwangswirtschaft bemächtigte sich nun fast aller Bedarfsgegenstände. Außer Mehl und Brot konnten jetzt auch Fleisch, Eier, Butter, Zucker und Seife nur noch gegen Bezugsschein erworben werden. Sogar die Bekleidung wurde „rationiert“, wie es damals kurz hieß. Radfahrer benutzten nur noch selten die Klingel, denn nach der Beschlagnahme des Gummis verursachte die „Ersatzbereifung“ aus Drahtspiralen ausreichenden Lärm, besonders dann, wenn die Besitzer solcher Vehikel über die Pflasterung der Straßen ihren Weg nahmen.
Nimmermüde Fürsorge galt den Kriegerwaisen und -witwen. Am 17. September erfolgte zur Sammlung von Geldmitteln für diesen Zweck die Nagelung des eisernen St. Georg. Schon am ersten Tage betrug der Erlös 6500 Mark, und als nach zwei Wochen die Nagelung beendet wurde, war die stattliche Summe von 13 000 Mark zusammengekommen. Das Wahrzeichen fand seine Aufstellung im Rathaus. Aus der Zahl der sinnvollen Sprüche zu den drei Hammerschlägen sei derjenige hier fest gehalten, den der Vertreter der Lehrerschaft der Evangelischen Volksschule I sprach:
„Der erste Schlag: Heil Vaterland,
Das Helden uns geboren!
Der zweite Schlag: Den Helden Dank,
Zum Opfer auserkoren.
Der dritte Schlag: Den Waisen Trost!
Nicht sollt ihr sein verlassen.
Gleich euren Vätern woll'n wir euch
In treuer Lieb' umfassen.“
Am 1. Oktober 1916 erfuhren die städtischen Betriebswerke eine Erweiterung. Das bisher in der Hand einer Privatgesellschaft gewesene Elektrizitätswerk ging an diesem Tage in die Verwaltung der Stadt über und wurde der Gasanstalt angegliedert. Im November wurde der Saal des alten Schießhauses als Soldatenheim für die in Reichenbach weilenden Krieger eingerichtet.
Mit außergewöhnlich strenger Kälte hielt das Jahr 1917 seinen Einzug. In den Ostertagen traten derart starke Schneefälle ein, dass vielfach die Telegrafen- und Lichtleitungen Schaden nahmen. Ein findiger Reichenbacher suchte der ständigen Sorge der Hausfrauen um den Verlust der kostbaren Bezugsscheine durch eine Kartentasche abzuhelfen, in der die vielerlei Scheine wohlgeordnet verwahrt werden konnten. Er ließ sich seine Erfindung auch patentieren, doch hat man später von der Sache nicht mehr gehört. Die im Frühjahr vorgenommene Zählung ergab, dass die Einwohnerzahl wiederum erheblich gesunken war. Sie betrug nur noch 15 415 Köpfe. Außer Kriegsverlusten und Einberufungen zum Heeresdienst bildeten die Betriebseinschränkungen in der Textilindustrie hierfür die Ursache, denn ein Teil der Arbeitslosen zog aus der Stadt fort, um anderwärts einen Broterwerb zu suchen. Im Übrigen versuchte man der zunehmenden Erwerbslosigkeit durch die Einführung der Hilfsdienstpflicht abzuhelfen, jedoch blieb dieser Maßnahme auf die Dauer der Erfolg versagt. Am 1. Mai verlor Reichenbach seine Kriegsgarnison. Dem Mangel an Rohstoffen fielen nun auch die Kirchenglocken zum Opfer. Am 6. Juli mussten die Glocken der evangelischen Kirche den Weg in die Gießereien der Kriegswerkstätten antreten. Ihnen folgte am 29. Juli das Geläut der katholischen Kirche nach. Jedem Gotteshause verblieb nur noch eine Glocke.
Der siebzigste Geburtstag des Generalfeldmarschalls von Hindenburg wurde am 2. Oktober mit einer Feier und einem Festspiel begangen. Die evangelische Gemeinde beging am 31. Oktober die 400-jährige Wiederkehr des Reformationstages mit einer öffentlichen Andacht am Lutherdenkmal und durch Aufführung des Lutherfestspieles. Am Jahresschluss sah es um die nächste Zukunft recht trübe aus. Die Lebensmittelpreise waren weiter gestiegen. Das Gespenst der Kohlennot bedrohte besonders die unbemittelten Kreise und zwang die Kaufleute zur Verkürzung der Geschäftszeit, um Licht und Heizstoff zu sparen. Den unausgesetzten Bemühungen des Betriebsdirektors Vaupel gelang es schließlich, aus dem Neuroder Kohlenrevier mit der Eulengebirgsbahn den dringendsten Bedarf der Stadt heranzuschaffen.
Mit Sorge sah man dem neuen Kriegsjahr 1918 entgegen. Längst war die laute Kriegsbegeisterung stiller Pflichterfüllung gewichen. Mit ernster Zähigkeit ging man seinen Tagesgeschäften nach. Durchhalten! — lautete die Losung der Zeit. Schon schien es, als sollte der unvergleichliche Opfermut, mit dem Heer und Heimat Jahr um Jahr alle Not und Entbehrungen getragen hatten, endlich ihren Lohn finden. Am 8. März verkündete Flaggenschmuck den mit Russland geschlossenen Frieden. Dann kamen die Siegesnachrichten von den gewaltigen Schlachten in Nordfrankreich, an der Aisne und Marne. Noch einmal belebte die Hoffnung auf ein glückliches Kriegsende alle Gemüter. Die Stadt plante bereits Wohnbauten für die Nachkriegszeit, da trat der unheilvolle Umschwung ein. Die übermächtigen Heere des Feindbundes erschütterten in ununterbrochenen Anstürmen die deutsche Westfront. Schritt um Schritt wichen die Armeen aus dem eroberten Lande zurück.
Auch in Reichenbach hatten sich zur gleichen Zeit die Elemente gegen die Daheimgebliebenen verschworen. Am 10. Juli suchte ein schweres Gewitter die Stadt heim. Straßen und Keller wurden überschwemmt. In der Nacht zum 31. August schreckte Feueralarm die Bürger aus dem Schlaf. In einem Hinterhaus der Quergasse war unbemerkt ein Brand ausgebrochen. Nur mit Mühe gelang die Rettung der bedrohten Bewohner. Schwierig gestalteten sich die Löscharbeiten, da kein Licht brannte. Nach größten Anstrengungen konnte das Feuer eingedämmt werden. Eine im Oktober von den vaterländischen Verbänden in der „Sonne“ einberufene Versammlung suchte angesichts der Unglücksschläge an allen Fronten den Mut und die Entschlossenheit der Bevölkerung zu heben. Zu den täglichen Entbehrungen hatte sich ein neuer, furchtbarer Feind gesellt: die Grippe. Sie forderte fast täglich ihre Opfer und griff besonders in der unterernährten Arbeiterbevölkerung bedrohlich um sich. Die Schulen mussten aus diesem Grunde zeitweilig ihre Pforten schließen. Trotz der Ansteckungsgefahr fanden jetzt immer zahlreicher regelmäßige, zwanglose Zusammenkünfte Gleichgesinnter in den Lokalen statt, und den Gesprächsstoff bildete die bedrohte Lage des Vaterlandes und der engeren Heimat. Als der November herannahte, war die alte Donaumonarchie jenseits der Sudeten in Trümmer gegangen. Der dort neu entstandene tschechische Staat schien zu einer ernsten Gefahr für die schlesische Heimat zu werden.
Wie in den ersten Kriegstagen lagerte eins unerträgliche Spannung über allen. Jedermann ahnte, dass die Entscheidung über die Zukunft des eigenen Volkes mit jedem neuen Tage bevorstand. Die zweite Novemberwoche brachte dann endlich nach 51 Kriegsmonaten die Lösung. Der Abdankung des Kaisers Wilhelm II. folgte die Ausrufung der deutschen Republik. Der Waffenstillstand am 11. November wurde der Beginn des Friedens, aber noch wusste niemand, mit welchem Preise er erkauft werden musste. Trauer und Niedergeschlagenheit ließen die unersetzlichen Verluste des verlorenen Krieges doppelt schwer empfinden; hatten doch nicht weniger als 234 Söhne Reichenbachs in dem großen Völkerringen ihr Leben für die Heimat hingeben müssen. Sollten alle Opfer umsonst gebracht worden sein?
Noch lastet über
uns allen der Schatten der jüngsten Vergangenheit. Zehn Jahre sind eine kurze
Spanne im Leben eines ganzen Volkes. Und dennoch: Wenn dereinst ungetrübten Bildes
und Urteils die Geschichte unserer Tage geschrieben werden wird, dann sollte, so
hofft der Verfasser dieser Chronik, auch unserem Volke und allem, worum es
kämpfte und litt, eine höhere Gerechtigkeit widerfahren. Dann werden sich Sinn und
Bedeutung der erschütternden Schicksalswende den späteren Geschlechtern
offenbaren als kostbares Vermächtnis: als unvergängliches, inneres Erleben, das
Totenhügel und zerstörte Hoffnungen, Nacht und Blut bis in fernste Zeiten überstrahlt.
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Der Ehrenfriedhof
aus dem Weltkrieg 1914/18 |
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