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12. Abschnitt
Die Entwicklung der Stadt seit der Eingemeindung
von Ernsdorf bis zum Beginn des Weltkrieges
Wichtige
Ereignisse brauchen ihre Zeit, um sich stetig zu entwickeln. Sie sind meist
auch nicht das Werk eines Einzelnen. Viele Köpfe haben oft schon lange im
Stillen daran gearbeitet, sie dem gewünschten Ziele entgegenzuführen, bis
endlich der geeignete Augenblick gekommen ist, wo es nur des klaren Blickes und
der Tatkraft eines einzigen Mannes bedarf, um das wichtige Werk aus der Taufe
zu heben und greifbar vor aller Augen erstehen zu lassen.
Dem Bürgermeister
Koslik gebührt unstrittig das Verdienst,
in richtiger Erkenntnis der wirtschaftlichen Notwendigkeit den Plan der Eingemeindung
von Ernsdorf mit fester Hand aufgegriffen
und mit Energie und Umsicht, weitschauend und ohne kleinliche Rücksicht in die
Wirklichkeit umgesetzt zu haben. Schon oftmals vor ihm war dieser Plan in
beiden Gemeinden, in Reichenbach und Ernsdorf dann und wann erörtert worden. Bereits
im Jahre 1881 hatte der mit kommunalen
Fragen besonders vertraute Beigeordnete Rathmann
auf die Notwendigkeit einer Vergrößerung des Stadtgebiets in Richtung aus Ernsdorf hingewiesen. Bis fast an die
alten Stadtmauern dehnte das große Nachbardorf seine Gemarkung seit altersher
aus. Solange Reichenbach in gewissermaßen
mittelalterlicher Abgeschlossenheit seine wirtschaftlichen Ziele erreichen
konnte, störte dieser Zustand niemand. Anders wurde es bei Anbruch des neuen Zeitalters
der Maschinen und der großen Industrien. Für die gewaltigen Werke der Webwarenfabrikation
war der Stadtbezirk bald zu klein. Soweit die Industrie nicht nach Langenbielau abgewandert war, suchte sie
Niederlassungsmöglichkeiten außerhalb der alten Stadt, und sie fand dieselben
in erster Linie im benachbarten Ernsdorf.
Hier war Platz für die Werkanlagen und für die Wohnungen der Fabrikbevölkerung.
Reichenbach und Ernsdorf vertauschten in wirtschaftlichen Sinne ihre Rollen. Zwar
saß der Kopf der Industrie, die Fabrikherren und der Stab ihrer Mitarbeiter,
noch immer in der alten Weberstadt, aber das Fabrikdorf in unmittelbarer Nachbarschaft
begann unter solchen Verhältnissen die erwünschte Ausdehnung der Stadt in jener
Richtung fühlbar zu hemmen. Aus wirtschaftlichen Gründen musste schon der
Bahnhof außerhalb des Stadtgebiets auf Ernsdorfer Gelände gelegt werden. Das
Nachbardorf baute sich in neuen Straßen nach diesem Verkehrspunkt hin aus. Auf alle
diese Tatsachen hatte schon Rathmann
in früheren Jahren hingewiesen. Dass es damals noch zu keiner Verwirklichung
des Verschmelzungsplanes kam, lag im Wesentlichen nur daran, dass man sich unschlüssig
war, ob Ernsdorf nur zu einem Teil
oder gänzlich einverleibt werden sollte. Gegen eine Aufteilung sträubten sich
die Ernsdorfer und mit Recht; denn bei ihrer geringen Steuerkraft hatten sie im
Falle einer Aufteilung nur wirtschaftliche Nachteile zu befürchten.
Bürgermeister Koslik erkannte bald, dass die
Eingemeindung von Ernsdorf nur dann
ohne Verzögerungen und Widerstände durchführbar war, wenn die Stadt ohne
engherzige Rücksichten auf eigene Einzelvorteile die ganze Nachbargemeinde in
die städtische Gemeinschaft aufnahm. In der Stadtverordnetensitzung am 1. April 1889 rollte er die
grundlegenden Fragen in einem längeren Vortrage auf und stellte gleichzeitig in
einer Denkschrift die für Alt-Reichenbach
zu erwartenden Vor- und Nachteile einander gegenüber. Er hob hervor, dass die
Stadt durch die Eingemeindung wesentliche Ausdehnungsmöglichkeiten erhalte und durch
die Aufnahme neuer Bewohner und Fabrikunternehmen ihre Steuerkraft erheblich
stärken könne. Dem stand freilich eine bedeutende Erhöhung der Armenlasten
infolge der in Ernsdorf zahlreich wohnhaften
Fabrikbevölkerung gegenüber. Ferner war zu erwarten, dass durch die städtischen
Bedürfnissen entsprechende Verbesserung des
Ernsdorfer Wegenetzes durch die Wasserleitung und Kanalisation und die Vervollkommnung
der Straßenbeleuchtung für die erste Zeit beträchtliche Mehrausgaben nötig
wurden.
Materiell war
also von der Einverleibung Ernsdorfs
für die nächste Zukunft kaum ein Vorteil zu erwarten, dagegen sprachen ideelle
Gesichtspunkte, insbesondere die Aussicht auf die Verwirklichung städtebaulicher
Siedlungspläne, entschieden für den vorgefassten Plan. Die Stadtväter entschlossen
sich nach diesem Vorschlag in überwiegender Mehrzahl dafür, die Eingemeindung
nun mit allem Nachdruck zu betreiben, und es wurde noch am gleichen Tage eine
Kommission zur Vorbereitung der weiteren Schritte gebildet.
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Der Reichenbacher
Ring nach dem Rathausneubau Ansicht von der Nordecke
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Wenige Wochen
später wurden die Verhandlungen mit der Gemeinde Ernsdorf aufgenommen. Am 13.
Mai 1889 beschäftigte sich die Ernsdorfer
Gemeindevertretung mit dem Antrage des Magistrats.
Anfangs waren die Meinungen durchaus geteilt. Es bestand besonders eine Verstimmung
darüber, dass die Regierung inzwischen bereits die Ausübung der Polizei am Bahnhofe
und in dem angrenzenden Gemeindeteil der städtischen Polizeiverwaltung in Reichenbach übertragen hatte. Im Verlaufe
der Verhandlungen wich jedoch diese Verstimmung sachlichen Erwägungen, denn
allzu sehr fielen die zu erwartenden Vorteile, besonders für die Industrie, ins
Gewicht. Ausschlaggebend blieb die Minderung der steuerlichen Lasten für die
Fabrikunternehmen und die Landwirtschaft. Die Letztere erhoffte von der
Eingemeindung außerdem den Wegfall der lästigen Hand- und Spanndienste.
So war auch in Ernsdorf der Boden geebnet, als am 5. Juni der Regierungspräsident Juncker von Oberkonreut nach Reichenbach kam, um sich an Ort und
Stelle Klarheit über die schwebenden Fragen zu holen. Am 21. Juni 1889 fand dann die denkwürdige, gemeinsame Sitzung des Reichenbacher und Ernsdorfer
Parlamente im Rathaussaale statt,
in der ohne lange Debatten der Beschluss zustande kam, beide Gemeinden in dem Stadtverband Reichenbach in Schlesien zu
vereinigen und die gegenseitigen Rechte und Pflichten gemeinschaftlich zu
übernehmen. Mit Ausnahme der Stiftungen verschmolz damit auch das gemeindliche
Vermögen. Der Magistrat sollte die Verwaltung des neuen Gemeinwesens
übernehmen, nachdem sowohl er wie die Stadtverordnetenversammlung durch Zuwahl
von Ernsdorfer Bürgern ergänzt worden waren. Als Zeitpunkt für das
Inkrafttreten der Verschmelzung wurde der 1.
April 1890 einstimmig in Aussicht genommen. Ein Beschluss des Magistrats
und der Stadtverordneten vom 10. Juli
legte stadtseitig diese Vereinbarung noch endgültig fest. Im Herbst gaben
Kreistag und Regierung ihre Zustimmung, und am 18. Dezember erteilte der neue
König Wilhelm II. die nach dem Gesetz
vorgeschriebene landesherrliche Genehmigung. Damit war das große Werk glücklich
zu Ende geführt. Freilich blieben die Gutsbezirke Klinkenhaus und Ernsdorf-Lehngut
von der Verschmelzung ausgenommen, was sich in der Zukunft für die einheitliche
Entwicklung der vergrößerten Stadt vielfach als Hemmnis erwies, sodass spätere Bestrebungen
darauf hinzielten, auch diese vom Stadtgebiet umschlossenen Bezirke zu verschmelzen.
Sie kamen aber zu keiner Verwirklichung. Noch annähernd drei Jahrzehnte
bestanden diese Gutsbezirke als selbständige Verwaltungen, bis sie in neuester Zeit
durch Landesgesetz in der Stadt ausgingen.
Mit gewaltigem
Ruck überschritt nun die Einwohnerzahl Reichenbachs
die Grenze, die zwischen den kleineren und größeren Provinzstädten durch die
Zahleneinheit Zehntausend gezogen war. Bei der Personenstandsaufnahme am Ende
des Jahres 1889 hatten Alt-Reichenbach 6721 und die Gemeinde Ernsdorf 6042
Einwohner gezählt, so dass am 1. April
1890 die Stadt mit 12 763
Einwohnern den 6. Platz unter den mittelschlesischen Städten einnahm.
Neuen gemeinsamen Zielen ging das vergrößerte Reichenbach jetzt entgegen, getragen von den Erwartungen und
Wünschen seiner alten und neuen Bürger, die im Schlussbericht des Magistrats in
folgender Form Ausdruck fanden:
„Die Vereinigung möge dem alten und neuen Stadtteile
zum Segen gereichen, die daran geknüpften Hoffnungen mögen sich erfüllen, und
Reichenbach möge blühen und wohlgedeihen zum Heile seiner Einwohner. Das walte
Gott!“
Schon in allernächster
Zeit traten unverkennbare Zeichen dafür ein, dass sich dieser Wunsch erfüllen
sollte. Am 5. April 1890 wurde die im
Vorjahr an der Schweidnitzer Straße
neugebaute mechanische Weberei der Gebrüder
Cohn mit 250 Webstühlen in
Betrieb genommen. Auch die Weberei der Textilwerke von Weyl & Nassau erfuhr eine bedeutende Vergrößerung.
Seit Jahren
bereitete die Peile nicht nur wegen
ihrer Hochwasserschäden, sondern auch infolge ihrer Verunreinigung durch die
Fabrikabwässer der Stadt ernste Sorgen. Die Klagen der Anlieger über die
Verschmutzung des Wassers und die unerträglichen Ausdünstungen wollten nicht
verstummen. Dazu kam, dass die Stadt von der Regierung andauernd gedrängt
wurde, für eine bessere Klärung der Abwässer und eine regelmäßige und gründliche
Reinigung des Flusses zu sorgen. Besonders die Letztere machte der Stadtverwaltung
erhebliche Schwierigkeiten. Ein großes Hindernis bot sich in dem Wehr der
sogenannten Straßenmühle, deren
Besitzer Renner mit der Stadt einen
mehrjährigen Streit mit Erfolg durchfocht. Entgegen der Forderung der Polizeiverwaltung,
das Wehr ohne Entschädigung niederzulegen, erreichte der Mühlenbesitzer ein
Urteil, wonach ihm die Benutzung dieser Anlage nur gegen Leistung von Schadenersatz
untersagt werden konnte. In der Zeit der Peilereinigung sollte ihn die Stadt für
den Verdienstausfall entschädigen. Der Plan, das Wehr zu kaufen und
niederzulegen, scheiterte schließlich an dem geforderten Preise, und der Übelstand
blieb bestehen.
Mit Recht machte
die Stadt immer wieder geltend, dass die Fabrikanten in Langenbielau in erheblichem Umfang zur Verunreinigung der Peile beitrügen und deshalb an den
Kosten der Räumung zu beteiligen wären. Trotz fortgesetzter Klagen kam diese für
die gesundheitlichen Lebensbedingungen der Einwohnerschaft außerordentlich
wichtige Angelegenheit in der Folgezeit zu keiner befriedigenden Lösung.
In starkem
Gegensatz stand in der hier geschilderten Zeit die Notlage der
Weber-Bevölkerung zu dem Überfluss an Geld in den gewerblichen Berufsständen.
Ein bis dahin in der Stadt in gleichem Ausmaß unbekannter Spekulationsfieber
bemächtigte sich weiter Teile der wohlhabenden Bevölkerung. Jeder suchte seine
Ersparnisse in allerlei Industrie- und Bankpapieren nutzbringend anzulegen. Nicht
immer war dieses Beginnen von dem erhofften Erfolge begleitet. In späteren
Jahren traten schwere wirtschaftliche Erschütterungen ein, denen manches Vermögen
sozusagen über Nacht zum Opfer fiel. Auf der anderen Seite war das Los der Weberbevölkerung
bedauernswerter denn je. Die Maschinenweberei
machte jeden Wettbewerb der Handweber,
deren im heimatlichen Webereibezirk damals noch nahezu 20 000 gezählt wurden, schlechterdings unerträglich. Die
verelendeten Handweber wandten sich in wiederholten Eingaben an die Regierungsstellen, und am 14. Juni 1890 an den Kaiser selbst. Sie machten geltend, dass
bei einem Wochenlohn von 5 Mark für
Männer und 2.50 Mark für Frauen bei täglich 14stündiger Arbeitszeit der
wirtschaftliche Untergang die Folge sein müsse. In der Folgezeit unternahmen
die behördlichen Stellen zahllose Versuche, diesem Notstand zu steuern. Aber
wie schon früher scheiterten alle Bemühungen, die Handweber in andere Gegenden
und Berufe zu überführen an dem zähen passiven Widerstand der Notleidenden, die
lieber Armut und Elend auf sich nahmen, als dass sie den Versuch zu einer
Berufsumstellung und zur Aufgabe ihrer verfallenen Häuschen machten. Viele Jahre
dauerte es, bis sich der Übergang zu neuzeitlicher Herstellungsweise und gleichzeitig
der Untergang der Handweberei vollzogen hatte. Erst die heranwachsende
Generation der Webersöhne und -töchter fand den Weg vom häuslichen Webstuhl in
die Maschinensäle. War auch im alten Reichenbach die Handweberei nur noch
vereinzelt ansässig, so wurde sie in der eingemeindeten Niederstadt, wie das
frühere Ernsdorf bald allgemein genannt
wurde, noch stark betrieben. Die Armenlasten der Stadt erreichten deshalb bald
eine beträchtliche Höhe. Der erste Interessenwiderstreit, wie er bei solchen Verschmelzungen
auf die Dauer selten ausbleibt, brach aus, als die Einwohner der Niederstadt zu der höheren städtischen Hundesteuer herangezogen wurden. Der
Magistrat musste sogar infolge umfangreicher Steuerverweigerung mit der Tötung
der vierbeinigen Hausgenossen drohen, ehe sich die Ernsdorfer auf ihre neuen
Pflichten als städtische Bürger besannen.
Die Eingemeindung
gab Anlass zu einer Umbenennung verschiedener Straßenzüge Am 13. August 1890 wurden neu benannt: die Töpferstraße, Göhligstraße (Göhlichstraße), Feldstraße,
Klinkenhausstraße, die Bahnhofstraße, ferner die Poststraße, Neudorfer- und Uferstraße.
Der vom früheren Tränktore (Trenktore)
in Windungen hinabführende Weg wurde bisher Tränkberg
(Trenkberg) genannt. Nunmehr hieß die Straße vom Ringe bis zur Einmündung in die Bahnhofstraße
ihrer ganzen Länge nach nur noch Tränkstraße.
Ihre Schreibweise wurde eigentümlicherweise ohne jede historische Ursache in Trenkstraße umgeändert. Man geht wohl in
der Annahme nicht fehl, dass bei dieser Verballhornung ein halbvergessenes Dokument
aus der Wiener Hofkanzlei Pate
gestanden hat. Diese Kanzlei hat bekanntlich an der Verschandelung deutscher
Namen vor allen anderen Kanzleien Europas
einen besonders großen Anteil genommen. Entgegen der heute immer noch behördlich
festgelegten aber undeutschen Schreibweise, wird deshalb diese alte Reichenbacher
Straße in der vorliegenden Chronik mit ihrem richtigen Namen „Tränkstraße“ auch weiterhin bezeichnet
werden, so oft von ihr die Rede sein wird.
Der Herbst 1890 brachte in rascher Folge Wassers- und Feuersnot über Reichenbach. Am 4. September trat die Peile
aus ihren Ufern, die Gansau und die Klinkenhausstraße waren völlig überflutet,
auch die Niederstadt hatte wieder
stark zu leiden. Am 26. des gleichen
Monats meldete das Feuerhorn Stadtfeuer im Hause des Kaufmanns Bannert auf der Kirchstraße. Die
Bewohner mussten mühevoll über die Feuerleitern geborgen werden, da ein Rettungsschlauch
nicht zur Stelle war.
Am 15. Oktober 1890 konnte die Bürgergrenadierkompagnie das Jubiläum
ihres 50-jährigen Bestehens feiern, dessen Höhepunkt ein Festzug in der alten
und neuen Tracht und eine Festtafel im Schießhauskretscham
bildeten. Nach dem Wegzuge der Garnison hatte sich ein Mangel an guter
Konzertmusik in der Stadt fühlbar gemacht. Es wurde deshalb von der
Bürgerschaft begrüßt, als im Oktober
durch den Musikmeister Hundhammer
eine Stadtkapelle begründet wurde,
die diesem Bedürfnis durch regelmäßige Garten- und Saalkonzerte abhalf und sich
bald eines guten Rufes erfreute. Die Stadt unterstützte das Unternehmen durch
einen jährlichen Zuschuss von 400 Mark.
Noch ehe der Winter mit Macht ins Land zog, waren die Arbeiten an der neuen
Bahnstrecke Reichenbach—Langenbielau
soweit fertiggestellt worden, dass schon im
November die ersten Arbeiterzüge verkehren konnten. Bis zur Eröffnung der
Linie für den Personenverkehr sollte allerdings noch ein halbes Jahr vergehen.
Unter starkem Besuch von auswärtigen Gästen beging die auf der Breslauer Straße ansässige Loge „Aurora zur ehernen Kette“ am 16. November 1890 das Fest ihres
75-jährigen Bestehens, das am Vorabend mit einer geselligen Tafel im ,,Schwarzen Adler“ eingeleitet wurde. Im
Dezember ergab die allgemeine Volkszählung eine Einwohnerzahl von 13 064, mithin eine Abnahme von genau 400 Köpfen gegen die Zahl des Jahres 1885, in dem in Reichenbach 7366 und in Ernsdorf 6098 Einwohner gezählt wurden.
Es bleibt aber zu berücksichtigen, dass in dieser Zwischenzeit ein Abgang von
rund 450 Militärpersonen
stattgefunden hatte, so dass in Wirklichkeit durch eine, wenn auch geringe,
Zunahme der Stadtbevölkerung eingetreten war, die in der Hauptsache auf die Niederstadt und die dort errichteten Neusiedlungen
entfiel. Im Nachbarort Langenbielau
wurden 16 381 Seelen gezählt.
Das Jahr 1891 stand im Zeichen neuer Hilfsmaßnahmen
für die verarmte Weberbevölkerung im Eulengebirge,
deren Notstand sich seit mehr als 100
Jahren wie ein roter Faden durch die Geschichte der Stadt und des Kreises zog
und in den Unruhen von 1790, 1844 und
1852 besonders deutlich an die Öffentlichkeit
trat. Am 31. Januar weilte aus diesem Anlass der Regierungspräsident mit einem
Stabe von Regierungsbeamten in Reichenbach,
von wo die weitere Bereisung der Industriebezirke vor sich ging. Neben dem
geplanten Bau einer Webschule in der Stadt, mit dem sich die städtischen Körperschaften
in der nächsten Zeit noch oft beschäftigen sollten, tauchten damals immer wieder
neue Eisenbahnbauprojekte auf, denn man hoffte, nach dem Beispiel der vierziger
Jahre, wo man das Weberelend durch Arbeit bei Chausseebauten zu lindern suchte, nun durch Beschäftigung der
Erwerbslosen neue Verkehrslinien erstehen lassen zu können. Neben der mehrfach
erwogenen Weistritztalbahn wurde auch
eine Bahnlinie von Heidersdorf über Langseifersdorf und Faulbrück mit der Fortsetzung nach Charlottenbrunn vorgeschlagen, jedoch kam es später zu keiner
Verwirklichung. Ebenso wurde das Bahnprojekt Neurode—Peterswaldau—Langenbielau—Reichenbach im Verlaufe der
weiteren Verhandlungen wiederholt erörtert.
Zu gleicher Zeit
schwebten Bestrebungen, das Realgymnasium
in ein humanistisches Vollgymnasium
umzuwandeln. Es erfolgte auch ein Antrag an die Regierung mit etwa 800
Unterschriften aus Stadt und Kreis, jedoch blieb ein Erfolg damals versagt. Als
dann später die Realgymnasien auch in der öffentlichen Meinung sich als gleichberechtigt
durchgesetzt hatten, wurde der vorgefasste Plan aufgegeben.
Ein Gedenktag für
die Stadt und für das benachbarte Langenbielau
wurde der 1. Juni 1891, denn an ihm
wurde die neue Zweigbahn zwischen
diesen beiden wirtschaftlich zusammengehörigen Orten dem öffentlichen Verkehr
übergeben. Festlich mit Fahnen und Waldesgrün geschmückt verließ der erste
Personenzug den Reichenbacher Bahnhof
und trat seine Reise nach dem damals längsten Dorfe Preußens an. Eine prächtige Illumination des Bahnhofsgartens und
ein Konzert beschlossen den Eröffnungstag. Die neue Linie erfüllte die in sie
gesetzten Erwartungen in jeder Weise. Sie zählt, im Verhältnis zu ihrer Länge
betrachtet, noch heute zu den am stärksten benutzten Strecken des deutschen
Verkehrsnetzes und hat ganz außerordentlich zu einer Belebung der Verkehrsbeziehungen
in wechselseitiger Hinsicht beigetragen.
Starke Regengüsse
in den Tagen vom 12. bis zum 14. Juli
führten zu einer Ausuferung der Peile
von der Niederstadt bis weit in den Schweidnitzer Kreis hinein, wodurch
wiederum großer Flurschaden entstand. Im Übrigen verlief der Sommer ohne bemerkenswerte
Ereignisse. Im Gegensatz zu den Vorjahren war in diesem die private Bautätigkeit
gering gewesen. Abgesehen vom Anbau eines Gesellschaftssaales im Gasthaus „Zur goldenen Sonne“ sind nur der Umbau
am katholischen Pfarrhause und die Erweiterung der Wartesäle am Bahnhof zu
nennen. Wie in der großen Politik, so zeigten sich auch im kommunalen Leben
starke Gegensätze und Spaltungserscheinungen, die bei der Stadtverordnetenwahl
im Dezember 1891 erkennbar wurden.
Die Agitation wurde mit einer bis dahin unbekannten Erbitterung geführt und es
traten dabei Interessengegensätze zwischen der Ober- und der neuen Niederstadt
zutage, die vor der Eingemeindung von Ernsdorf
niemand vorausgesehen hatte. Vielleicht mit Unrecht fühlten sich damals die
Bewohner der Niederstadt in der
Verbesserung ihrer gewiss nicht sonderlich städtischen Wegeverhältnisse
benachteiligt. Zwar waren im verflossenen Jahre die Frankensteiner und die Schweidnitzer
Straße neu gepflastert und die Kanalisation der oberen Stadt war im Wesentlichen
beendet worden, es durfte aber nicht vergessen werden, dass diese Arbeiten
schon in einer Zeit notwendig und geplant worden waren, in der an eine Eingemeindung
von Ernsdorf ernstlich noch nicht
herangegangen war. Die Kosten von rund 50 000
Mark für diese Arbeiten wurden auch aus Mitteln bestritten, die noch im
alten Reichenbach für solche Zwecke
bereitgestellt worden waren.
Ein großes Brandunglück
suchte Reichenbach am 19. März 1892 heim. Die Rosenbergersche Spinnerei in der Schweidnitzer Vorstadt brannte
vollständig nieder. Die Feuerwehren hatten alle Hände voll zu tun, um die
benachbarten Etablissements, besonders die Fabrik
der Gebrüder Cohn und die Vogelsche
Maschinenbauanstalt, vor einem Übergreifen des Feuers zu schützen. Über 300 Menschen wurden durch die Vernichtung
der Spinnerei arbeitslos, jedoch ging die Firma bald unentmutigt ans Werk, an anderer
Stelle in der Stadt eine neue große Fabrik erstehen zu lassen. Drei Tage nach
dem Brande verstarb Justizrat Hundrich,
ein Mann, der lange Jahre als Magistratsmitglied und Stadtverordnetenvorsteher
mit Erfolg für das Wohl der Stadt gewirkt und sich um die Begründung der König-Wilhelm-Schule und ihre rechtzeitige
Übergabe an den Staat ein bleibendes Verdienst erworben hat. Er vertrat auch
die Interessen Reichenbachs als
Mitglied des Kreistags und Kreisausschusses mit regem Eifer. In
dieser Zeit wurden auf höhere Anordnung in der Stadt Erhebungen über die im
Besitz der alten Innungen und in der Hand von Privatleuten befindlichen
Altertumswertstücke angestellt, deren Erhaltung in geeigneter Weise gesichert
wurde. Heute birgt das städtische Heimatmuseum
einen großen Teil der damals als wertvoll erkannten Stücke.
Die Bautätigkeit
lebte in diesem Jahre wieder auf. Schon im Frühjahr erhielt die Hilbertsche Dampfmühle an der Langenbielauer Straße neuzeitliche
Mahleinrichtungen. Ebenso wurde mit dem Neubau der Rosenbergerschen Spinnerei auf der benachbarten Gansau begonnen. Die Fundamentierung gestaltete
sich äußerst schwierig, da kein fester Untergrund gefunden werden konnte.
Mutmaßlich war an der Baustelle in früherer Zeit das alte Peilebett verlaufen. Durch mühevolle Rammarbeiten und Untergrundbefestigungen
musste hiergegen Abhilfe geschaffen werden. Am Ende des Jahres war aber doch
der stattliche Bau glücklich fertiggestellt, der mehr als 600 Arbeitern lohnende Beschäftigung geben sollte.
Seitens der
katholischen Kirchengemeinde hatte man die Fürsorge für die kleinen Kinder in
der Niederstadt mit großem Eifer
betrieben. Am 16. Mai 1892 wurde in
einem besonderen Raum der dort gelegenen katholischen Schule eine Kinderbewahranstalt eingerichtet. Ebenso
schuf man in der Oberstadt ein segensreiches
Institut. Die Grauen Schwestern errichteten
in der Langenbielauer Straße ein
Krankenhaus, das im November eröffnet
wurde.
Im Juli des Jahres lenkte ein Ereignis in
der Nachbarstadt Schweidnitz die
allgemeine Aufmerksamkeit dorthin: die große Gewerbeausstellung. Wie schon früher bei solchen Gelegenheiten
ließen es sich auch diesmal die Reichenbacher
Gewerbetreibenden angelegen sein, die Ausstellung mit ihren Erzeugnissen zu
beschicken. Und wieder war es die Möbelfabrik Franz Herdens Sohn, Inhaber: Paul
Herden, die mit einem überaus kunst- und geschmackvollen Wohn- und Speisezimmer
von hohem Materialwert, ausgeführt in belgischer Renaissance, allgemeine
Anerkennung und die Auszeichnung mit der silbernen Medaille erfuhr. Das Zimmer
wurde von der Ausstellungsleitung als 1.
Hauptgewinn für die Schweidnitzer
Gewerbelotterie angekauft und ging später von dem Gewinner, einem einfachen
Manne, in das Eigentum eines Schlossbesitzers über. Auch andere Reichenbacher Aussteller
errungen beträchtliche Erfolge. Unter ihnen seien die Dampfmühle von C. S. Hilbert mit einer anschaulichen Darstellung
ihres Fabrikationsgebietes und die Maschinenfabrik von W. Vogel wegen der Vorführung eines neuartigen Kalanders hervorgehoben. Auch sie erwarben sich die silberne
Medaille. Mit Recht durfte Reichenbach
auf die öffentliche Anerkennung seines altbekannten Gewerbefleißes auf einem so
stark beschickten Wettbewerb, wie er auf der Schweidnitzer Ausstellung vertreten war, stolz sein.
Der Mangel
jeglicher Brücken im Bereiche der südlichen Oberstadt
machte den Weg vom Ringe zum Bahnhof recht zeitraubend. Die Fußgänger
mussten über die Ernsdorfer Steinbrücke
einen weiten Umweg machen, wenn sie nicht einen der wenigen Privatwege benutzen
konnten. Im Jahre 1890 war deshalb
beabsichtigt worden, einen kürzeren Fußgängerweg unterhalb des Spillerberges zwischen den Gasthäusern „Zum grünen Berge“, jetzt Tivoli-Gaststätte, und „Unter drei Linden“ anzulegen und auf
einer Brücke über den dort vorhandenen Mühlgraben
und die Peile zwischen der alten Gasanstalt und dem Klinkenhaus hindurchzuführen. Dieser Weg wurde im August 1892 fertiggestellt. Erbauer der Peilebrücke war die einheimische Firma W. Vogel. Die Entfernung zwischen der Oberstadt und dem Bahnhof
wurde dadurch um mehr als fünf Minuten verkürzt.
Große Besorgnis
erregte die in diesem Sommer in vielen Orten Deutschlands, besonders in Hamburg,
epidemisch aufgetretene Cholera. Im August ordnete deshalb die städtische Polizei umfangreiche Sicherheitsmaßnahmen
an. Zum Glück blieb Reichenbach von
der Seuche verschont. Am 21. September
konnte die Freiwillige Feuerwehr den
neuen Steigerturm an der Klosterkirche einweihen. Im November machte die Deutschsoziale Partei in mehreren Versammlungen größere Anstrengungen,
Freunde für ihre Bewegung zu gewinnen. Dabei gingen die Meinungen über den Sinn
und die Bedeutung der Bestrebungen sehr auseinander, und es fehlte nicht an mancherlei
persönlichen Verunglimpfungen. Es gelang nicht, eine größere Anhängerschaft für
die gesteckten Ziele zu gewinnen.
Das Jahr 1893 ist im Wesentlichen gekennzeichnet
durch die Förderung zweier größerer Projekte, die seit einiger Zeit die Öffentlichkeit
beschäftigten: die Pläne für den Bau der evangelischen
Volksschule und einer Webschule.
Bereits im Jahre 1891 hatte die
Regierung nachhaltig auf den Neubau der Volksschule gedrängt, da die alte
Schule, die seit ungefähr 100 Jahren im
Herrensitz der mittelalterlichen Burgvogtei
untergebracht war, in keiner Weise mehr den Anforderungen der Neuzeit entsprach.
Verhältnismäßig rasch hatte man sich auf das Gelände neben der evangelischen Kirche als Bauplatz
geeinigt und diese Wahl konnte insofern als glücklich bezeichnet werden, als dort
die neue Schule vom Lärm des Straßengetriebes so gut wie unberührt blieb.
Dieser Platz hatte bisher als Versammlungsort der früheren Garnison gedient und
konnte nun ohne Schwierigkeit seiner neuen, gemeinnütziger Zweckbestimmung
zugeführt werden. Ein Jahr später erfolgte der Anlauf durch die Stadt. Größere
Schwierigkeiten machte die Kostenfrage. Zwar waren für diesen Zweck schon von
der evangelischen Schulsozietät namhafte
Mittel bereitgestellt worden, sie reichten aber bei Weitem nicht aus, eine
große, allen Anforderungen entsprechende Schule zu schaffen. Die eingeholten
Kostenanschläge bewegten sich durchweg um 150
000 Mark, eine Summe, die eine starke Inanspruchnahme der städtischen
Mittel nötig machte. Im November 1892
entschlossen sich die Stadtväter nach wiederholten Beratungen und Verhandlungen
mit der Regierung wegen erhöhter staatlicher Zuschüsse für den Entwurf des
Maurermeisters Walter aus Liegnitz. Das folgende Jahr verging mit
neuen Verhandlungen über die Kostenbeteiligung des Staates. Schließlich kam man
zu einem befriedigenden Ergebnis, und im April
1894 begannen die Bauarbeiten, nach deren Beendigung die Stadt um ein neues,
ansehnliches Gebäude bereichert war, dessen monumentale Wirkung freilich durch
die versteckte Lage beeinträchtigt blieb.
Der Plan der
Errichtung einer Webschule war den
damaligen Bestrebungen um eine Verbesserung der Lage der Handweber und um die
Versorgung der heimischen Industrie mit fachlich vorgebildeten Kräften
entsprungen. Leider zeigte die Regierung für die geldliche Seite dieses wohlgemeinten
Unternehmens von Anbeginn nicht das Verständnis, das die Stadt bei dem
offensichtlichen Notstand der Bevölkerung hätte erwarten dürfen. Es wurde von
ihr verlangt, den größten Teil der Baukosten und sodann die ständige
Unterhaltung aus eigenen Mitteln zu tragen. Dies führte zu oftmaligen Auseinandersetzungen
im Stadtparlament, das sich gegen diese Zumutung entschieden sträubte. Bereits im März 1892 weilte der Handels- und Verkehrsminister
in Reichenbach, um eine Verständigung
zu erzielen und die Platzfrage zu erörtern. Zu gleicher Zeit bewarb sich auch
das benachbarte Langenbielau für die Fachschule.
Im Jahre 1893 waren die Verhandlungen
am toten Punkt angelangt. Sie kamen erst im folgenden Jahre wieder in Gang, als
sich der Minister Freiherr von Berlepsch
erneut persönlich um das Zustandekommen des Planes bemühte. Notgedrungen nahm
die Stadt danach die Bau- und Unterhaltungsbedingungen an. Die Webschule sollte an der Schweidnitzer Straße ihren Platz finden.
Später scheiterte jedoch dieses Projekt endgültig an den untragbaren
Nachforderungen des Staates, und Reichenbach
blieb ohne diese Fachschule.
Hatte das Jahr 1893 der Stadt wenig erfreuliche Lasten
aufgebürdet, so gestaltete sich die Entwicklung der Dinge im folgenden Jahre
doch wesentlich besser. Im Februar beschlossen
die Stadtverordneten die Chaussierung der
Hauptstraße in der Niederstadt. Damit ging ein seit Längerem gehegter Wunsch
der dort wohnenden Bürger auf Verbesserung ihrer Verkehrsverhältnisse in
Erfüllung. Freilich war bei der Unübersichtlichkeit und offenbaren
Unzweckmäßigkeit der Wegeanlagen dieses neuen Stadtteils Durchgreifendes in absehbarer
Zeit nicht zu erhoffen. Unzählige Gassen und Gässchen machen noch heute dem
Ortsunkundigen die Orientierung in der Niederstadt
schwer, ein Umstand, der durch die Lage dieses Ortsteiles im Hochwassergebiet
noch verschlimmert wird. Zieht man diese Tatsachen in Vergleich, dann muss man
den vorausschauenden, planvollen Siedlungen der mittelalterlichen, deutschen
Städtegründer noch heute hohe Anerkennung zollen. Wenn auch die Hauptstraßen Alt-Reichenbachs und seine Stadtwälle
den jetzt gesteigerten Verkehr beschwerlich machen, so hat die Zweckmäßigkeit
der Gesamtanlage auch nach mehr als 600
Jahren noch ihre Geltung behalten, während die benachbarte ehemals dörfliche Ansiedlung
heute mehr denn je einer neuzeitlichen Planung Hemmnisse mannigfachster Art
entgegensetzt.
Ein Ereignis im
Musikleben der Stadt wurde das große Konzert des Gesangvereins für gemischten
Chor am 25. Februar 1894, bei dem
Werke von Franz Schubert und Brahms zur Wiedergabe gelangten, die dem
Dirigenten des Chors, Kantor Wiedemann,
das uneingeschränkte Lob der anwesenden Breslauer
Musikfachverständigen eintrug. Allgemeine Trauer erfüllte die Stadt bei der
Kunde von dem am 11. März erfolgten
Tode des Justizrats Haack, der als
Magistratsmitglied und Stadtverordneter, wie auch eine Zeitlang als Vorsteher des Stadtparlaments, sich große
Verdienste erworben hatte.
Seit mehr als
einem Jahrzehnt waren in Reichenbach
Bestrebungen im Gange gewesen, ein Denkmal
zu errichten, das in würdiger Form eine Ehrung der für das Vaterland gefallenen
Krieger und zugleich eine Huldigung für das Kaiserhaus darstellen sollte.
Anfangs hatte eine Gruppe von Privatleuten mit einem Sammelwerk für diesen Zweck
begonnen, das schließlich von dem Kriegerverein
mit Erfolg weitergeführt wurde. Später befasste sich dann die Stadtverwaltung selbst
mit dem Vorhaben und kam im Frühjahr 1894
zu dem Entschluss, das Denkmal gemeinsam mit den interessierten Vereinen zu
errichten. Die hierzu gebildete Kommission
entschied sich für den Entwurf des Bildhauers Seeger aus Charlottenburg,
eine modellierte Walkürengestalt auf
einem Steinsockel, der die Reliefbilder der Kaiser Wilhelm I. und Friedrich III.,
sowie die Namen der Gefallenen trägt.
Die geflügelte Gestalt hält in der einen Hand die Kaiserkrone, in der anderen
einen Siegeskranz. Mit der Inangriffnahme des Denkmals, für das ein gut
gelegener Platz an der Hohen Schanze
ausersehen war, wurde alsbald begonnen.
Der 12. Verbandstag der Gebirgsvereine unter der
Eule führte dessen Mitglieder am 17. Juni
wieder einmal in der Eulengebirgshauptstadt Reichenbach
zusammen. In einem hierfür gedichteten Festspiel brachten die Vereine den
heimatlichen Bergen in symbolischer Form ihre Huldigungen dar. Ein noch nie geschehenes
Ereignis lockte im August mehr als 2000 Besucher in den Garten des Gasthofes
„Zur Sonne“, denn dort fand ein öffentliches Ochsenbraten am Spieß statt,
und wer irgend konnte, ließ sich zu den Klängen einer Musikkapelle einen guten
Bissen munden. In einer Zeit, in welcher sich Unternehmer wie Arbeiterschaft zu
Genossenschaften und Gewerkschaften zusammenschlossen, ließen es sich auch die
Gewerbetreibenden der Stadt angelegen sein, eine Arbeits- und Interessengemeinschaft
einzugehen. Am 14. Oktober gründeten
die Tischler-, Bäcker- und
Schneiderinnungen einen Kreis-Innungsverband,
dem später noch andere Zünfte beitraten. Eine Ausnahme hiervon machten die Barbiere,
Fleischer und Feuerarbeiter, die eine Organisation ähnlicher Art bereits besaßen.
Die neuen Landesgesetze führten wesentliche Umwälzungen auf dem Gebiete des städtischen
Steuerwesens herbei. Bei der Steuerfestsetzung
im Herbst 1894 wurden die Realsteuern
mit höheren Zuschlägen belastet als die Einkommensteuer. Verschiedene neue
Steuern, wie die Umsatz-, Bier- und
Lustbarkeitssteuer, gelangten zur Einführung. Auch eine Fahrradsteuer wurde nun erhoben. Die
evangelische Kirchengemeinde veranstaltete vor Weihnachten ein Gustav-Adolf-Festspiel, das so stark besucht
war, dass es wiederholt werden musste. Am 12.
Dezember beschlossen die Stadtväter, den Posten des Turmwächters zum 1. April des nächsten Jahres abzuschaffen. Damit
verschwand eine seit den ältesten Tagen herrührende Einrichtung, die sich aber
in abgeänderter Form doch bis in unsere Zeit erhalten hat, denn noch heute
tritt der Turmwächter bei Bränden als Alarmposten in Tätigkeit.
Fünfzig Jahre bestand
am 1. Januar 1895 das „Reichenbacher Wochenblatt“, das heute
die Bezeichnung „Tageblatt“ führt. Mit
großem Erfolge führte der Gesangverein
für gemischten Chor zu Beginn dieses Jahres das Bruchsche Oratorium „Die Glocke“
unter seinem bewährten Leiter Wiedemann
in vollendeter Form auf, sodass ihm sogar die bedeutende Leipziger Zeitung für Kirchenmusik ein uneingeschränktes Lob spendete.
Die Stadt ließ sich die Förderung des geplanten Kriegerdenkmals jetzt gleichfalls nach Kräften angelegen sein und
bewilligte Beihilfen von zusammen 8000
Mark. Der Sommer verging mit den Einbettungsarbeiten und der Schaffung der
Denkmalsfigur. Als im Mai von der Regierung
die Nachricht eintraf, dass der Bau einer Webschule
in Reichenbach aufgegeben worden sei,
fiel in der Öffentlichkeit hierüber kein Wort des Bedauerns, denn die offenbare
Unbilligkeit der staatlichen Forderungen, die auch von der Tagespresse
bemängelt wurde, hatte jedes Interesse für das Unternehmen schwinden lassen.
Der Nachbarort Langenbielau hat in späteren
Jahren in der gleichen Sache mehr Entgegenkommen gefunden. Er erhielt die heute
zu einem ansehnlichen Unternehmen ausgebaute Fachschule.
Knopf,
Wetterfahne und der goldene Stern der katholischen Stadtpfarrkirche wurden nach 190
Jahren am 10. Juli wieder einmal
erneuert. Die im Knopf aufbewahrten Urkunden vom Jahre 1794 wurden vervollständigt, und am 16. September erfolgte die Aufsetzung. Das Rosenbergersche Textilunternehmen schien von Brandunglücken
verfolgt zu sein. Am 26. Juli 1895 entstand
in der vor Kurzem erbauten Spinnerei an
der Gansau durch Selbstentzündung ein Feuer, dessen Bekämpfung sich nur dadurch
wirksam gestaltete, dass die vorzüglichen Schutzvorrichtungen der Arbeitssäle
und der massive Bau ein Weitergreifen verhinderten. Aber gewaltig war der
Schaden an vernichteten Maschinen und Material. Etwa 390 000 Mark hatten die Versicherungen zu tragen. Die Ereignisse
des Sommers schloss die am 2. September
1895 erfolgte Einweihung des
Kriegerdenkmals an der Hohen Schanze ab. Auf dem Sockel, der die Walkürengestalt trägt, sind die Namen
von 25 Reichenbacher Gefallenen des Feldzuges 1866 und deren 20 aus dem Kriege 1870/71 verzeichnet. An der weihevollen Feier nahm die ganze
Stadt teil. Im Winter schien das immer wieder auftauchende Bahnprojekt Reichenbach—Neurode in greifbare Nähe
gerückt. Die Berliner Allgemeine
Kleinbahngesellschaft legte einen Plan vor, der den Reichenbacher Bahnhof neben der Fabrik
von Hain in Aussicht nahm, also etwa an derselben Stelle, an welcher heute
der Eulengebirgsbahnhof steht. Die
Bahnlinie sollte links der Chaussee nach Peterswaldau
verlaufen, dort auf die Dorfstraße
treten und auf derselben bis Steinkunzendorf
weitergeführt werden. Hier war ein Tunnel
geplant. Mehrere Jahre dauerten die Verhandlungen. Sie scheiterten schließlich
an der Weigerung des Kreises, die Chaussee für die Benutzung durch die
Kleinbahn zu überlassen. Die Volkszählung
von 1895 ergab, dass Reichenbach
mit 14 058 Einwohnern vor Waldenburg den fünften Platz unter den mittelschlesischen Städten einnahm.
Verheißungsvoll
begann das Jahr 1896. Eine rege
Bautätigkeit setzte in der Stadt ein. Zahlreiche Läden wurden neuzeitlich ausgestaltet.
Zwei Fabrikunternehmen begannen mit der Errichtung
von Werkwohnhäusern, denn in der Stadt herrschte seit einiger Zeit Mangel
an Kleinwohnungen. Im Mai verfiel das
alte evangelische Kirchschulhaus am Kirchplatz
dem Abbruch. Dabei fand man den alten unterirdischen
Gang zum benachbarten Augustinerkloster
wieder, er wurde jedoch verschlossen, und noch heute schreiten unsere Zeitgenossen
über ihn hinweg. Beim Abtragen der 2 Meter dicken Hausmauern machte man die
Entdeckung, dass sie innen einen etwa 40
Zentimeter breiten Hohlraum aufwiesen, der zur Abhaltung von Nässe und Kälte
bestimmt gewesen war.
Der damals berühmte
Wetterforscher Falb behielt am 24. Mai, dem 1. Pfingstsonntag, Recht. Ein Wolkenbruch verursachte Hochwasser,
das den Verkehr zum Bahnhof längere Zeit unterband. Hierunter litt auch die an
diesem Tage abgehaltene Fahnenweihe der
Bürgerschützen, die sich anstelle der ehrwürdigen, im Laufe der
Jahrhunderte unbrauchbar gewordenen Bürgerfahne eine neue angeschafft hatten.
Die Wassermassen unterspülten die Gleisanlagen im Hahndurchstich, sodass der
Bahnverkehr mit Frankenstein einen
ganzen Tag unterbrochen war. Am 28. Juni
feierte Erzpriester Hoheisel unter
allseitiger Teilnahme sein 23-jähriges
Priesterjubiläum, wobei er durch einen Fackelzug geehrt wurde. Kurze Zeit später
schied er von seiner Gemeinde. Im Spätsommer
fand in der Stadt eine Gartenbauausstellung
statt, die auch von auswärts stark besucht war. Der erste Kinematograf, wie damals noch die Lichtspiele genannt wurden, wurde in Reichenbach im Dezember 1896
vorgeführt. Edisons neueste Erfindung
erregte naturgemäß allseitiges Staunen und fand großen Zulauf.
Mit der
Ausdehnung der seit 1890 vergrößerten
Stadt in Richtung auf die Niederstadt
hatte sich das Bedürfnis ergeben, für das Gelände beiderseits der immer stärker
bebauten Schweidnitzer Straße einen
Besiedlungsplan nach neuzeitlichen Gesichtspunkten aufzustellen. Es kam im Januar 1897 zustande und bezweckte neben
einer planvollen Straßenführung besonders die Regelung der Bauformen und der Abstände
von den Wegen. Der Mitbegründer der Schlesischen
Türkisch-Rotgarn-Färberei und der neuen Großmühle
an der Langenbielauer Straße,
Rittergutsbesitzer Hugo Hilbert, starb
am 13. Februar. Er war 30 Jahre im Gut Klinkenhaus ansässig gewesen, das
ihm gehörte. In ihm verlor die Stadt einen Mann, der durch seine Unternehmungen
viel zur modernen Entwicklung Reichenbachs
beigetragen hat.
Je mehr die Pläne
einer Bahnverbindung Reichenbachs mit
Neurode in die Ferne rückten, desto stärker
schob sich zu dieser Zeit ein anderes Projekt in den Vordergrund: die Gebirgsbahn. Über Langenbielau und Silberberg
nach Mittelsteine. Tatkräftig nahm sich
seiner die Bahn-Baugesellschaft Lenz
& Co. in Berlin an und strebte
seitdem über mannigfache Schwierigkeiten hinweg seiner Verwirklichung zu. Aber
zunächst sollten noch einige Jahre vergehen, bis das Eulengebirge dem Eisenbahnverkehr auf diesem Wege erschlossen und
eine Verbindung mit dem Neuroder Kohlengebiet
hergestellt war. Eine Neuerung im Zeitungswesen der Stadt trat am 1. März 1897 ein. Seit diesem Tage erschien
das alte „Reichenbacher Wochenblatt“
unter dem Titel „Tageblatt“ als erste
Ortszeitung dreimal wöchentlich mit mehreren Illustrationsbeilagen.
Feueralarm
ertönte am 15. Mai und rief die städtische
Wehr zu dem Hause des Blattfabrikanten Vogt
in der Neudorfer Straße, wo Menschenleben
bedroht waren. Mehrere der Hausbewohner mussten über die Feuerleiter geborgen
werden, da die Treppen und Hausausgänge von Rauch und Flammen bereits versperrt
waren. Absatzstockungen in der Textilindustrie und die deshalb vorgenommenen
Lohnsenkungen hatten schon im Vorjahre im benachbarten Langenbielau zu einem Streik
geführt. Im Juni 1897 trat der gleiche
Fall auch in Reichenbach ein, wo die
Belegschaft der Firma Weyl & Nassau
die Arbeit auf einige Zeit niederlegte. Damit begannen die Auseinanderziehungen
zwischen den Unternehmern und ihren Arbeitnehmern über die Lohn- und Arbeitszeitfragen,
ein Wirtschaftskampf, der sich mehrere Jahre hinzog. Die im März gegründete Freiwillige Sanitätskolonne vom Roten Kreuz trat nach Ausbildung
durch den Arzt Dr. Perdelwitz in
einer größeren Übung erstmalig vor die Öffentlichkeit. Im Juli ließ sich der Musikmeister Kautzenbach
mit einer Kapelle von 40 Mann in der
Stadt nieder, die das Unternehmen durch einen jährlichen Zuschuss förderte.
Zahlreiche gute und gern besuchte Konzerte wurden nun der Einwohnerschaft geboten.
So wirkte auch die Musikerschar bei dem großen Doppelkonzert des Gesangvereins „Arion“ am 26. August mit, das ein voller Erfolg wurde.
Hochwasser war am
29. Juli eingetreten und verursachte,
wie schon so oft, erheblichen Flur- und Sachschaden, wovon besonders wieder die
Niederstadt betroffen wurde. Das Jahr
1897 blieb im Übrigen durch eine sehr
rege Bautätigkeit gekennzeichnet, die vor allem in den neuen Stadtvierteln an
der Schweidnitzer Straße in Erscheinung
trat. Am Schluss des Jahres nahm schließlich noch ein Plan festere Gestalt an,
der für Reichenbach später von großer
Bedeutung werden sollte. Das Projekt der Eulengebirgsbahn,
das eine Linienführung von der Stadt über Peterswaldau
und Langenbielau nach Silberberg und von dort weiter ins Neuroder Kohlenrevier bis nach Mittelsteine vorsah, fand an vielen
Stellen, besonders auch in der Langenbielauer
Industrie zahlreiche Freunde, die sich bei den Regierungsstellen mit Erfolg
für das Zustandekommen der Bahnstrecke einsetzten. Die gewerbliche Fortbildungsschule, die am 1. Juli 1897 von der Stadt ins Leben gerufen war, stieß anfangs bei
den Gewerbetreibenden auf manche Widerstände. Bürgermeister Koslik verstand es aber auch in diesem
Falle, das Fortbestehen der Schule durch maßvolle Verhandlungen mit den Lehrherren
zu sichern.
Anstelle des von
seiner Kirchengemeinde geschiedenen Erzpriesters Hoheisel trat Pfarrer Huck
am 11. Januar 1898 sein Amt als Seelsorger
an. Seinem langjährigen Wirken war eine Zeit vorbildlicher kirchlicher Eintracht
unter den Bekenntnissen beschieden. Gerader Sinn, wahre Herzensgüte und Duldsamkeit
sichern ihm für alle Zeit ein ehrendes Gedenken in Reichenbach.
Als im Juli 1898 in der städtischen Freibadeanstalt
erstmalig ein Frauenbad eingerichtet wurde, war damit nicht bloß einem seit Langem gehegten Wunsche des zarten Geschlechts entsprossen, die Stadtverwaltung
bewies vielmehr auch ihr Verständnis für die schon damals immer stärker
werdende Betätigung in allen Arten von Leibesübungen, deren Vorkämpfer die
beiden örtlichen Turnvereine seit mehr als drei Jahrzehnten gewesen waren.
Reges Leben brachten die Herbstmanöver
in der Mitte des Septembers.
Alltäglich pilgerte die Einwohnerschaft in großen Scharen in das Hügelland um Bertholdsdorf, Langseifersdorf und Lauterbach hinaus, um des selten gesehenen
militärischen Schauspiels teilhaftig zu werden; und die in der Stadt zahlreich
einquartierten Soldaten fanden willkommene Aufnahme, denn gern erinnerte sich
jedermann an die Zeiten, da Reichenbach
noch Garnisonort war.
Hundert Jahre waren vergangen, seit die evangelische Pfarrkirche erstand und zum Gottesdienst benutzt
wurde. Aus diesem Anlass war das Gotteshaus mit einem neuen Innenanstrich versehen worden. Auch neue Bänke und Stühle wurden angeschafft. Am 25. September ging das Jubiläum unter Anteilnahme weitester Kreise
in feierlicher Form vor sich. Zwei Wochen später, am 12. Oktober, hoffte die Einwohnerschaft, den damaligen Kaiser Wilhelm II. und seine Gemahlin begrüßen zu können, als er auf seiner Reise ins
gelobte Land vorher dem Schloss Camenz
einen Besuch abstattete. Als der Kaiserzug die Stadt passierte, waren aber die
Fenstervorhänge herabgelassen, und die zahlreich am Bahnhof Versammelten mussten
unbefriedigt umkehren.
Etwas Neues bot
der Männerturnverein der schaulustigen Menge, als es am 23. Oktober einen Stafettenlauf
auf der Chaussee von Reichenbach nach
Bertholdsdorf veranstaltete. Auf der 2200 Meter langen Bahn liefen zwei Mannschaften
von je elf Turnern über gleichmäßige Teilstrecken, wovon die eine Partei eine
schwarz-weiße, die andere eine rote Flagge führte. Die „Roten“ siegten, und das gab Stoff genug zu mancherlei scherzhaften
Anspielungen auf die damaligen politischen Ereignisse. Die stetige Entwicklung
der Stadt bewies die Bevölkerungszählung am Schlusse des Jahres, die 14 616 Seelen ergab.
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Die katholische
Stadtpfarrkirche
Ansicht aus Südwesten
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Viel war in der
hier geschilderten Zeit für eine gute Pflasterung
der Straßen getan worden, wozu alljährlich ein Teil der Überschüsse aus der
Stadtsparkasse herangezogen wurde. Auch im Jahre 1899 erfolgten wieder umfangreiche Neupflasterungen, sodass der gute Zustand der Verkehrswege in Reichenbach bald weithin bekannt wurde.
Als im April ein neuer Streik der Textilarbeiter wegen des Zehnstundentages
ausbrach, schlossen sich die Arbeitgeber zusammen, und es kam nach der Arbeitseinstellung
in einzelnen Betrieben schließlich zu einer allgemeinen Aussperrung, von der in
der Stadt mehr als 3090 Personen
betroffen wurden. Wiewohl die Textilarbeiter aus Streikkassen und von den
Gewerkschaften unterstützt wurden, brach ihr Widerstand doch nach kurzer Zeit
zusammen.
Neben solchen
wirtschaftlichen Kämpfen konnte die Stadt in diesem Jahre aber auch auf
wichtige Fortschritte zurückblicken. Hierzu gehörte unter anderem der im Juni zustande gekommene Vertrag mit
der Gesellschaft „Helios“ über die
Errichtung eines Elektrizitätswerkes
zur Stromversorgung des Ortes. Die Wahl des Baugeländes war der Unternehmerin
überlassen worden. Sie entschied sich für den Platz rechts der Peterswaldauer Straße, hinter der Fabrik von Hain. Durch diese Wahl ist
die Lage der späteren städtischen Betriebswerke
bestimmt worden, in die auch die neue Gasversorgungsanlage
einbezogen wurde. Im Übrigen stand im Brennpunkt der Ereignisse des Jahres 1899 das Projekt der Eulengebirgsbahn, das wegen seiner
großen wirtschaftlichen und ideellen Bedeutung nachfolgend in einem besonderen Abschnitt
gewürdigt werden soll.
Erich Müntner fährt hierüber in seiner Jubiläumsschrift treffend Folgendes aus: „Wer als begeisterter
Wander- und Bergfreund, als Schneeschuhläufer oder Geschäftsmann nach dem schönen
Eulengebirge kommt, sei es, um in seinen anmutigen Tälern, verschwiegenen
Waldschneisen, auf sonnigen Höhen oder in tiefverschneiten, raureifbehangenen
Wäldern Erholung zu suchen oder in den zahlreichen Ortschaften am Fuße des
Gebirges seine geschäftlichen Pflichten zu erfüllen, für den ist es heute eine Selbstverständlichkeit,
die Eulengebirgsbahn, im Volksmunde kurzweg „Eulenbahn“ oder gar „Eule“ genannt,
zu benutzen. Die Zeit hat es vergessen lassen, dass früher der Reisende, der
den Fuß des Gebirges erreichen wollte, die staubige Landstraße treten musste,
wenn er nicht zu den Begüterten gehörte, die sich eine Lohnfuhre leisten
konnten. Damals war man schon froh, wenn das Fahrgeld für den berühmten Schwarzerschen
Omnibus reichte, der aber leider nur von Ober-Peterswaldau bis Reichenbach, und
auch nicht zu jedem Staatsbahnzuge, verkehrte. Wer weiß es heute noch, welch
jahrelanger Mühe und Arbeit es bedurfte, bis unsere „Eule“ dem Verkehre übergeben
werden konnte, und wer erinnert sich noch der Kämpfe, die jahrelang um die
Linienführung ausgefochten werden mussten. Wer gedenkt ferner noch der
tatkräftigen Männer, denen wir das stolze Werk verdanken, die viel geopfert
haben, sei es an Zeit, sei es an Geld. Vielen derselben, von denen ein Teil
leider schon unter dem grünen Rasen ruht, haben die Vorarbeiten manchen Ärger
und Verdruss gebracht. Aber ihre im Interesse der Allgemeinheit geleistete
Arbeit ist nicht umsonst gewesen. Die Wirtschaftslage der Kreise Reichenbach
und Neurode durch einen Bahnbau zu heben, neue Arbeitsgelegenheiten und Absatzgebiete
zu schaffen, den Touristenverkehr zu fördern, das war ihr Ziel.“
Bekanntlich waren
seit dem Anfang der neunziger Jahre mehrere
Projekte in Vorbereitung, von denen schließlich drei, das Neuroder, das Peterswaldauer
und das Langenbielau-Silberberger, festere
Form gewannen. Die beiden ersteren scheiterten schließlich an der Kostenfrage,
die sich besonders durch die notwendige Durchtunnelung des Eulengebirgsmassivs untragbar gestaltete. Mit klarem Blick
erkannten dies die maßgebenden Persönlichkeiten der Langenbielauer Industrie und setzten deshalb im Verein mit der Bahnbaugesellschaft Lenz & Co. alles
daran, das Projekt Reichenbach—Langenbielau—Silberberg
mit dem Anschluss an das Neuroder
Kohlenrevier zur Verwirklichung zu bringen. Es bedurfte
langwieriger Verhandlungen, die vom März 1896
bis 1899 zielbewusst und unentmutigt
geführt wurden. Als sich im Herbst 1897
auch der neue Reichenbacher Landrat
Freiherr von Richthofen für diese Linienführung entschied, war der Boden
bald geebnet. Die Stadt Reichenbach,
an der Spitze ihr rühriger Bürgermeister Koslik,
entschloss sich gleichfalls für den Plan der Firma Lenz, und auch Peterswaldau
gab seinen früheren Widerstand auf. Am 25.
Juli 1899 erfolgte im Reichenbacher
Rathaus die Gründung der „Eulengebirgsbahn-Aktiengesellschaft“,
für welche die Stadt sogleich 50 000 Mark
zeichnete. In stärkstem Umfange beteiligte sich hieran auch die heimische Industrie,
unter ihr die Reichenbacher Firmen Cohn
Gebrüder und C. S. Hilbert und
der Bankier von Einem. Bürgermeister Koslik wurde Mitglied des Vorstandes der
Gesellschaft, während der Landrat Freiherr
von Richthofen zum Vorsitzenden des Aufsichtsrates gewählt wurde. Ersterem gebührt
das Verdienst, die oft mit Widerständen verbundenen Grundstückserwerbungen
zielbewusst durchgeführt zu haben. Noch im September
1899 begann man den Bau der ersten Teilstrecke Reichenbach—Peterswaldau. Bis zu 600 Arbeitskräfte waren dabei tätig.
Am 1. Juni 1900 verließ der erste
fahrplanmäßige Zug, reich geschmückt mit Girlanden und Birkenzweigen, den neuen
Kleinbahnhof, der neben dem
Staatsbahnübergang an der Peterswaldauer
Straße seinen Platz fand. Rasch schritt nun der Bau der nächsten Teilstrecken
vorwärts. Am 1. Oktober 1900 wurde
die Strecke Ober-Peterswaldau—Ober-Langenbielau
und am 12. Dezember des gleichen Jahres deren Fortsetzung bis nach der Stadt Silberberg in Betrieb genommen. Dann
galt es, auf der Strecke über die Festung
Silberberg bis nach Mittelsteine das
Gebirge zu überwinden, was nur durch eine Zahnradlinie möglich war. Mächtige
Sprengungen waren nötig, mehrere schwierige Brückenbauten mussten ausgeführt
werden. Am 5. August 1902 war auch
dieses Werk vollbracht. Den Abschluss des bedeutsamen Unternehmens bildete der
Bau der sogenannten Heuscheuerbahn
von Mittelsteine nach Wünschelburg, die am 4. Dezember 1903 eröffnet wurde.
Vier lange
Baujahre waren nötig gewesen, um den Bahnbau zum glücklichen Ende zu führen.
Für Reichenbach brachte er die
erwarteten Vorteile in reichem Maße. Abgesehen von dem wirtschaftlichen Nutzen
der Verbindung der heimischen Textilindustrie mit den jenseits der Berge
befindlichen Gruben und den dortigen Absatzgebieten, rüste die Stadt durch die
neue Bahnlinie mit einem Schlage in den Vordergrund des Fremdenverkehrs; sie wurde das Zugangstor
zum Eulengebirge. Ungezählte Tausende, die Wanderlust und Freude an der
lieblichen Natur in die Berge zog, besuchten nun auf der Durchreise die Stadt.
Es steigerten sich die wechselseitigen Beziehungen zu dem benachbarten Peterswaldau und den übrigen
Gebirgsorten des Kreises.
Im Frühjahr 1900 hatte man eine gründliche
Verbesserung und Verschönerung der städtischen Promenadenanlagen auf den alten
Stadtwällen vorgenommen, die von Jahr zu Jahr von der Einwohnerschaft immer stärker
als Erholungsstätte in Anspruch genommen wurden und daneben den fremden Besuchern
Reichenbachs einen Rundgang um Alt-Reichenbach und prächtige Aussichten
auf die schöne Umgebung gewährten. Auch in anderer Hinsicht förderte die Stadt
ihre Bürger. Im Juni beschlossen die
Stadtväter, zur Behebung des Mangels an Kleinwohnungen billige Darlehen an Baulustige zu vergeben. Hiervon wurde in vielen
Fällen Gebrauch gemacht, denn der Zinsfuß von 3 Prozent war sehr mäßig und die
Tilgungszeit reichlich bemessen.
Die Frage nach
der Notwendigkeit, die althergebrachten Jahrmärkte
noch weiter abzuhalten, war damals schon sehr umstritten. Als der Magistrat den Stadtverordneten am 26.
September den Antrag unterbreitete, den Jahrmarkt aufzuheben, stieß er auf starken
Widerspruch der Gewerbetreibenden.
Denn wenn auch der Einheimische die Verkaufsstände der umherziehenden Händler
nur wenig besuchte, tat dies doch die umwohnende Kreisbevölkerung in umso stärkerem
Maße. Viele Hunderte kamen nach der Kreisstadt und brachten auch den eingesessenen
Kaufleuten und den Gastwirtschaften regen Umsatz.
In der
langgedehnten Niederstadt hatte sich
das Fehlen eines Bahnanschlusses stark fühlbar gemacht. Die Eröffnung der Haltestelle Reichenbach-Niederstadt am 1. November wurde deshalb freudig
begrüßt. Nach kurzer Amtszeit verließ Landrat Freiherr von Richthofen am 1.
Dezember den Kreis seines hiesigen Wirkens, um den wichtigen Posten als Landeshauptmann der Heimatprovinz anzutreten.
Die Volkszählung am Ende des Jahres ergab 15
052 Einwohner.
Die großen
Verdienste des Bürgermeisters Koslik
fanden ihre Anerkennung beim Ablauf seiner Wahlperiode zu Beginn des Jahres 1901. Er wurde einhellig auf weitere zwölf
Jahre zum Stadtoberhaupt erwählt. Feueralarm rief die städtische Wehr am 26. März zur Fabrik von Weyl & Nassau. Der Brand konnte zum
Glück auf seinen Herd beschränkt werden. Im Sommer erfuhr der Bau von
Kleinwohnungen neue Förderung durch den Entschluss der Stadtväter, Baugenossenschaften
besonders mit Geldmitteln zu unterstützen. Im September stellte der „Wanderer
aus dem Eulengebirge“ nach 47-jährigem
Bestehen sein Erscheinen ein. Während die anderen, bereits bestehenden, Ortszeitungen
an seiner Stelle die Bevölkerung mit den Tagesnachrichten versahen, sorgte die
am 13. Oktober eröffnete Volkslesehalle, um die sich der Sanitätsrat Dr. Herrnstadt besonders verdient
machte, für die Bildung und Unterhaltung weiter Volkskreise.
Zwei Tote des
Jahres 1901 stehen in besonders engen
Beziehungen zu Reichenbach. Der eine ist der berühmte Germanist und
Altertumsforscher, Professor Dr. Karl
Weinhold (Carl Weinhold), der am 15.
August in Nauheim am Ende eines schaffensreichen
Lebens starb. Er wurde am 23. Oktober
1823 in Reichenbach als Sohn des
damaligen ersten Pastors geboren. In seiner Jugend nahm er im Revolutionsjahr 1848 an den freiheitlichen Bestrebungen
feurigen Anteil und gehörte zu den rührigsten Mitgliedern der gelehrten
Freiheitsvereinigung „Museum“. Im Mannesalter
machte er sich mit hervorragenden Werken über Volkssitten und Geschichte Schlesiens, über deutsche Sagen und germanische
Frühgeschichte einen Namen. Lange Zeit wirkte er auf dem Lehrstuhl für Germanistik
an der Berliner Universität, mit der sein
Name eng verknüpft bleibt. Der andere Tote war der am 1. Oktober verstorbene Baumeister Fellbaum. Sein Andenken lebt in
den stattlichen Gebäuden Reichenbachs
fort, die ihm in den Jahrzehnten nach 1870
ihre Entstehung verdankten. Er ist Erbauer des Frägerschen Waisenhauses (Fraegerschen Waisenhauses), des heutigen Rathauses und der König-Wilhelm-Schule. An seine rastlose
Tätigkeit erinnern die ansehnliche Villa
von Hilbert in der Poststraße,
ferner der heutige „Schützenhof“ und
der Wasserturm. Daneben führte er
noch zahlreiche andere Wohnhäuser in der Stadt auf.
Die Verdienste
des Bürgermeisters Koslik um den
beachtlichen Fortschritt der Entwicklung der Stadt sind bereits wiederholt
gewürdigt worden. Seine weitschauenden Pläne konnten aber auch um so eher die
Bestimmung und Unterstützung des Magistrats
und der Stadtverordneten finden, weil
die Stadt in ihrer Sparkasse eine
Einrichtung besaß, die Jahr um Jahr erhebliche Überschüsse abwarf, welche die
Durchführung solcher großen Aufgaben ganz wesentlich erleichterten. Nur so
wurde es möglich, dass im Jahre 1902
zu gleicher Zeit drei Unternehmungen begannen, deren jede für sich schon eine
erhebliche geldliche Belastung für die Stadt bedeutete. Nach längeren Verhandlungen
mit der Justizbehörde wurde der dringend notwendige Neubau des Amtsgerichts und des dazu gehörigen Gefängnisses durchgeführt, deren Kosten die Stadt gegen Gewähr
einer angemessenen Jahresmiete übernahm. Zu Beginn des folgenden Jahres konnte
das stattliche Gebäude in der Frankensteiner
Straße in Benutzung genommen werden. Ferner entschloss man sich zu einer
neuen Pflasterung des Marktplatzes
und zur Schaffung einer Straße, die in Verlängerung der Poststraße gradlinig über die Peile
zum Bahnhof führen sollte. Beide
Projekte erforderten die stattliche Summe von nahezu einer Viertelmillion Mark. Lange waren die Ansichten darüber geteilt, ob
die Bürgersteige am Ringe mit Bäumen
bepflanzt werden sollten. Obwohl sich hierfür auf Anregung des Kreisschulrats Tamm, des tatkräftigen
Führers der Eulengebirgsvereine,
mehrere Stadtverordnete einsetzten, entschied sich doch deren Mehrzahl schließlich
dahin, auf Baumschmuck im Interesse der Übersichtlichkeit des Platzes und der
Geschäfte zu verzichten. Aber auch so wurde der Marktplatz mit seinem neuen, mit Mosaiksteinen verzierten Pflaster ein Schmuckstück der Stadt.
Zu Beginn des
Jahres 1903 wurde das neue Amtsgericht
in der Frankensteiner Straße
feierlich eingeweiht. Die Baukosten betrugen einschließlich des Gefängnisses 468 000 Mark. Wenige Tage später, am 19. Januar, verstarb der Apothekenbesitzer
Constantin Weist, ein Mann, der lange
Jahre in der Stadtverordnetenversammlung zum Wohl der Stadt gewirkt hatte. Die weittragenden
Beschlüsse über die Eingemeindung von Ernsdorf
fallen in seine Amtszeit als Vorsteher
des Stadtparlaments. In der hier geschilderten Zeit hatte die Sozialdemokratie im Kreise viel Boden
gewonnen. Das bewiesen die Reichstagswahlen
am 14. Juni 1903, bei welchen der
Kandidat dieser Partei, August Kühn
aus Langenbielau, mit absoluter
Mehrheit im ersten Wahlgange gegen die Vertreter des Zentrums, des Königstreuen
Wahlvereins und der Freisinnigen
gewählt wurde.
Frühjahr und Sommer des Jahres waren ausgefüllt mit dem Ausbau der Neuen Bahnhofstraße, die auf einer
architektonisch ansehnlichen Brücke den Weg von der Innenstadt zum Bahnhof
für Fußgänger und leichte Fahrzeuge nun wesentlich verkürzte. Dem Bedürfnis
nach Reklame wurde durch Aufstellung von Litfasssäulen
an allen Hauptverkehrsstellen im Stadtgebiet entsprochen.
Der 1873 geschaffene evangelische Friedhof neben dem Wasserturm
erfuhr eine Erweiterung. Am 9. September
1903 wurde der neue Teil des Begräbnisplatzes feierlich seiner Bestimmung übergeben.
Der frühere Landrat Freiherr von
Richthofen bedachte auch in seiner neuen Stellung als Landeshauptmann Schlesiens seine ehemalige Kreisstadt mit besonderem
Wohlwollen. Seiner Förderung war es zu verdanken, dass die große Provinzial Obst- und Gartenbauausstellung
im September, die er selbst
eröffnete, nach Reichenbach kam.
Während der vier Ausstellungstage wurde die sehenswerte Schau in der „Sonne“ von nahezu 10 000 Personen besucht. Am Ende des Jahres ergab die Zählung der sich
stetig entwickelnden Stadt 15 713
Einwohner.
Das Jahr 1904 führte sich mit einer für die
Bürgerschaft angenehmen Überraschung ein. Das Bankhaus F. W. Weiß stiftete anlässlich der Feier seines 100-jährigen Bestehens der Stadt einen
Betrag von 10 000 Mark zum Bau eines Hallenschwimmbades. Hieran war jedoch
die Bedingung geknüpft, dass die Einrichtung innerhalb von fünf Jahren in
Angriff genommen sein musste; im anderen Falle sollte die Stiftung für den geplanten
Bau eines Vereinsheims des Kaufmännischen
Vereins Verwendung finden. Trotzdem später auch noch von anderen Stellen
namhafte Beiträge gestiftet wurden, kam der Bau des Hallenbades vor dem Kriege
nicht mehr zur Verwirklichung, weil über die Platzfrage keine Einigung zu
erzielen war. Eine am 28. Februar 1904
stattgefundene Vollversammlung der Innungsangehörigen
des Kreises, die von 250 Meistern
besucht war, beschloss die Bildung eines Innungsausschusses
mit dem Zwecke der gemeinsamen Wahrnehmung der Interessen des Handwerks. Der
Plan scheiterte jedoch später an gesetzlichen Hindernissen, da Stadt- und
Landinnungen verschiedenen Aufsichtsbehörden unterstanden. In festlicher Weise
beging die Firma August Urbatis am 5. März die Feier ihres 50-jährigen Bestehens.
Viel wurde für
die Verschönerung der Stadtpromenade getan. Im Juni 1904 erfreute der zierliche
Springbrunnen auf dem Promenadenteil links der Breslauer Straße zum ersten
Male Alt und Jung mit seinem Wasserspiel. Man trug sich auch mit dem Gedanken,
die „Rondell“ genannte Schanze unweit
der König-Wilhelm-Schule abzutragen.
Da jedoch die baumbestandene Erhöhung zur Belebung der Anlagen beitrug,
unterblieb die Ausführung dieses Planes. Groß war die Anteilnahme der gesamten
Bevölkerung am 25-jährigen Priesterjubiläum
des allseitig hochgeschätzten Stadtpfarrers Robert
Huck, die am 13. Juli festlich
begangen wurde. Gern hätte die Kirchengemeinde damit die Weihe der drei neuen Glocken verbunden, die aus dem Material
der altehrwürdigen Glocken umgegossen werden mussten. Die größte dieser alten
Glocken stammte aus dem Jahre 1616, die beiden anderen waren noch älter.
Bereits um 1480 sollen sie in Schweidnitz gegossen worden sein. Sie
wurden im Jahre 1606 in das Reichenbacher Gotteshaus übernommen. Da sich
der Neuguss verzögerte, konnte die Glockenweihe erst am 9. Oktober 1904 vorgenommen werden. Die große Glocke führt den Namen
St. Georg zur Erinnerung an den Schutzheiligen
der Stadt, die beiden anderen erhielten die Benennung Immaculata und St. Hedwig.
In das Jahr 1905 fallen zwei weitere bemerkenswerte
Bauten. Am 1. April wurde die neue evangelische Volksschule III in der
Niederstadt ihrer Bestimmung übergeben. Ferner wurde mit dem Bau der höheren Töchterschule begonnen, die
ihren Platz an der Frägerstraße
(Fraegerstraße) fand und deren Unterhaltung anstelle des bisherigen Privatinstituts jetzt die Stadt
übernahm. Der hochgelegene, stattliche Bau gereicht der ohnedies ansehnlichen
Villenstraße zur besonderen Zierde. Die Einweihung der Lehranstalt erfolgte am 23. April 1906. Das Jahr 1905 ist im
Übrigen noch durch zahlreiche andere Begebenheiten gekennzeichnet. So erhielt
die Stadt am 7. Mai anlässlich des 50-jährigen Jubiläums des Gustav-Adolf-Frauen-
und Jungfrauenvereins den Besuch des Generalsuperintendenten D. Nottebohm. Im Sommer verschärften sich die seit Längerem bestehenden Lohnstreitigkeiten zwischen den Reichenbacher Textilindustriellen und
den gewerkschaftlichen Organisationen
soweit, dass die Unternehmer am 13.
September zur Aussperrung sämtlicher Arbeiter schritten. Sie währte bis zum
15. Oktober. Etwa 1200 Werkangehörige mussten in dieser
Zeit feiern. Diesmal aber setzten die Gewerkschaften, wenn auch nicht in vollem
Umfange, ihre Lohnforderungen durch. Der 1.
Oktober 1905 ist der Eröffnungstag der auf genossenschaftlicher Grundlage
errichteten Zentralmolkerei. Am 2. Januar 1906 hätte die vom Kaufmännischen Verein im Jahre 1856 begründete Handelsschule das erste halbe Jahrhundert ihres Bestehens feiern
können, jedoch fand sich hierzu erst vier Wochen später die geeignete Gelegenheit.
Im Frühjahr sah man überall in den
neuen Stadtteilen die Bauhandwerker fleißig bei der Arbeit. Neue, ansehnliche
Wohnhäuser erstanden, jedoch blieb nach wie vor ein Mangel an Kleinwohnungen,
weil sie zu damaliger Zeit für den Privatmann nicht genügend Verzinsung des
Baukapitals boten. Ein seltenes Ereignis widerfuhr der Stadt am 3. April. Barfüßig und nur mit einem härenen
Gewand bekleidet hielt „gustaf nagel“,
der Apostel der naturgemäßen Lebensweise, seinen Einzug in Reichenbach. Groß war der Zulauf zu seinem Vortrage im Sonnensaal,
größer noch die Belustigung über die Rohkostmahlzeiten des seltsamen Mannes,
der auch durch seine originelle Schreibweise umwälzend zu wirken bemüht war.
Schallende Heiterkeit löste es aus, als er während des Vortrages innehielt, um sich
als echter Naturmensch, unbekümmert um seine Zuhörer, der Verschönerung der ihm
gleichnamigen Körperteile am Ende seiner Gehwerkzeuge zuzuwenden. Eine Schar
begeisterter Anhänger konnte der Naturapostel in der Stadt nicht zurücklassen,
aber was der wunderliche Heilige über die Rohkost lehrte, hat sich trotz
alledem in unserer Zeit durchgesetzt.
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Der Reichenbacher
Ring in seinem heutigen Zustand
Ansicht von der Südecke
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Am Morgen des 24. Mai 1906 zog die Bürgerschaft in hellen
Scharen in die Berge, denn es galt, einer Feier beizuwohnen, an deren Zustandekommen
der Reichenbacher Eulengebirgsverein,
besonders aber sein rastlos wirkender Führer, Kreisschulrat Tamm, im Verein mit zahlreichen anderen Bergfreunden
mitgewirkt hatte: der Einweihung des
Bismarckturmes auf der Hohen Eule,
der höchsten Erhebung des Heimatgebirges. Schon am 1. Juli des Vorjahres war hierzu der Grundstein gelegt worden. Nun
grüßte der schöne Bau, zugleich ein Zeugnis der Verehrung für den ersten und
größten Kanzler des Deutschen Reiches,
herüber und gewährte allen Besuchern aus einer Höhe von 22 Metern herrliche Aussicht ins schlesische Land und auch auf Reichenbach,
die Eulengebirgshauptstadt.
Seit Längerem
hatte das Postgebäude den Ansprüchen
des gesteigerten Verkehrs nicht mehr genügt. Im Juni begann Baumeister Klatt
mit dem Erweiterungsbau auf dem nördlichen Flügel. Bei dieser Gelegenheit fand
auch die Verzierung des Giebels durch Sandsteinwerk statt. Ebenso erfuhr im
Sommer ein anderes Gebäude eine gründliche Umgestaltung: das Verlagshaus des „Reichenbacher Tageblattes" am Ringe. Seine neuzeitliche Schaufensteranlage
ist für viele späteren Ausbauten der städtischen Geschäftshäuser vorbildlich
gewesen. Leider musste bei dieser Gelegenheit die Gedenktafel entfernt werden,
die an das Zusammensein der großen Freiheitsdichter Arndt, Körner und Schenkendorf in diesem geschichtlich denkwürdigen
Bau erinnerte.
Unter den
Reichenbacher Männergesangvereinen ist der älteste der Verein „Eintracht“. Er wurde im Jahre 1866 gegründet und beging am 23. September 1906 unter starker
Beteiligung der Brudervereine sein 40-jähriges
Jubiläum. Als im Herbst die
Staatsbahnverwaltung die Absicht kundgab, die Eisenbahnstrecke Königszelt—Camenz zweigleisig
auszubauen, rückte der alte Plan, den verschiedenen Peilauer Gemeinden einen besseren Anschluss an die Linie zu verschaffen,
wieder stark in den Vordergrund. Es bildeten sich Interessengruppen für und
wider den Vorschlag, das zweite Gleis längs der Straße mit einer Haltestelle in
Oberpeilau zu führen. Auch die Kreisstadt
erhoffte hiervon eine bessere Verbindung mit der Peilauer Landwirtschaft. Das Vorhaben hat sich später nicht
verwirklicht, weil in den letzten Jahrzehnten die in Ober-Peilau und Gnadenfrei
ansässige Industrie ihre Fabriken bereits in die Nähe des bestehenden Bahnhofs
gerückt hatte. Nach Verbreiterung des Hahndurchstichs wurde deshalb auch das
zweite Gleis auf der alten Strecke ausgebaut. Dreißig Jahre lang hatte der
Sanitätsrat Dr. Herrnstadt dem
Stadtparlament angehört, als ihn am 20.
November 1906 unerwartet der Tod aus einem schaffensreichen Leben abrief. Sein
bleibendes Verdienst ist die bereits früher erwähnte Einrichtung der Volkslesehalle, die sich eines von Jahr
zu Jahr steigenden Zuspruches aus allen Kreisen der Stadtbevölkerung erfreute.
Der Beginn des
Jahres 1907 stand im Zeichen des
Reichstagswahlkampfes. Erst in der Stichwahl ging der Kandidat der bürgerlichen
Parteien, der Zentrumsabgeordnete Dr.
Fleischer, mit einer knappen Mehrheit als Sieger über den bekannten Sozialistenführer
August Kühn aus Langenbielau hervor. Zahlreiche frohe Feste wurden nach altem
Brauch in der Faschingszeit gefeiert. Unter ihnen machte das große Kostümfest des Kaufmännischen Vereins noch
lange von sich reden. „Eine Fahrt nach
Togo“ lautete sein Kennwort. Mit viel Geschick und Mühe war der große Saal
der „Sonne“ in das damals viel besprochene
Kolonialland umgewandelt worden. Dorthin lenkte der gewaltige Dampfer „Dernburg“ seine humorvolle Fahrt, und
eine Eisenbahn „Togo—Lome“ beförderte
die zahlreichen Gäste unter mancherlei Scherzen durch Palmenhaine und andere
exotische Gefilde. Es war das schönste und originellste Fest seit Jahrzehnten.
Mit dem Frühjahr setzten die von der Stadt alljährlich
betriebenen Straßenverbesserungen
wieder ein. Diesmal galten sie der Regulierung
der Tränkstraße (Trenkstraße). Lange hatte es gedauert, bis sich bei den
Stadtvätern die Überzeugung durchgesetzt hatte, dass nach dem Bau der Neuen Bahnhofstraße und der Peilebrücke gerade
jene Straße in erster Reihe der Abwicklung des Verkehrs vom Ringe zum Bahnhof zu dienen bestimmt war. Nach Beseitigung eines Hauses in
der Nachbarschaft des früheren Tränktores
(Trenktores) überwand nun die sauber gepflasterte Straße das Gefälle des Tränkberges (Trenkberges) in einer
gefälligen Doppelkrümmung.
Der Gesangverein für gemischten Chor wartete
bei der Feier seines 25-jährigen Bestehens
am 17. März mit der vollendeten Wiedergabe
des Oratoriums „Die Zerstörung Jerusalems“
von Klughardt auf. Der am 24. April gegründete Verein der Haus- und Grundbesitzer erreichte
rasch eine hohe Mitgliederzahl und entfaltete in den nächsten Jahren eine
lebhafte Tätigkeit, denn immer mehr rückten Wohnungs- und Siedlungsfragen in
den Vordergrund der Stadtinteressen. Zu gleicher Zeit entbrannten in der Webwarenindustrie von Neuem wirtschaftliche
Kämpfe. Geplante Massenaussperrungen konnten aber noch einmal im Verhandlungswege
beigelegt werden.
Der Übungsturm der Feuerwehr in der Niederstadt
hatte dreißig Jahre treu seinem Zweck gedient, als ihn ein Sturm zerstörte. An
seiner Stelle erstand ein neuzeitlich ausgestatteter Steigerturm, den die Wehr schon am 13. Mai in Benutzung nehmen konnte. Die Erwartungen, die sich an
den Ausbau der Neuen Bahnhofstraße
geknüpft hatten, erfüllten sich schnell. In wenigen Jahren bildete sich hier
ein neues Stadtviertel, das mit seinen ansehnlichen Häusern dem vom Bahnhof
kommenden Fremden einen günstigen Eindruck vermittelte. Hierzu gehörte auch das
vom Fotografen Schmied errichtete Eckhaus,
in dem am 1. Juli 1907 das Café „Monopol“ eröffnet wurde. Neben dem
altbekannten „Ring-Café“ von Hamich fanden dort jetzt Einheimische
und Fremde eine neue, gern besuchte Gaststätte. Wolkenbruch und Hagel brachen eine Woche später über die Stadt herein.
Die Kanäle vermochten die Wassermassen nicht aufzunehmen, die sich auch in den Ratskeller ergossen und überall viel
Schaden anrichteten. Von Bedeutung für die Stadt wurde die im August erfolgte Einrichtung des Chemischen Nahrungsmittel-Untersuchungsamts
für den eigenen Kreis und die Nachbarkreise Schweidnitz und Nimptsch. In späteren
Jahren erweiterte sich das Tätigkeitsfeld dieses Amtes noch auf mehrere andere
Kreise.
Als Hauptstadt
des Eulengebirges sah Reichenbach am 24. und 25. August 1907
in seinen Mauern den 25. Verbandstag der
Gebirgsvereine an der Eule, und die Einwohnerschaft hatte es an prächtigem
Schmuck der Straßen deshalb nicht fehlen lassen. Das Jubiläum fand seinen
Höhepunkt in einem Festspiel, dessen Dichter der Rektor Schocke war. Neben der Krankenpflege hatte die
Kreisverwaltung ihre Fürsorge auch den Siechen
zuteil werden lassen. So entstand unweit des Johanniter-Krankenhauses das Kreis-Siechenhaus
„Wilhelm-Augusta-Stiftung“, das am 21.
Oktober eingeweiht wurde. Als weitere soziale Einrichtung reihte sich
hieran die vier Tage später erfolgte Gründung eines Ortsvereins zur Bekämpfung der Tuberkulose, der gerade in der vielfach
unterernährten Industriebevölkerung seither segensreich gewirkt hat und bald
nach seinem Entstehen in dem Arzt Dr. Kordhanke
einen tatkräftigen Vorkämpfer für die volksgesundheitlichen Ziele fand.
Zahlreiche andere
Städte hatten in jener Zeit die Versorgung der Bevölkerung mit Gas in eigene
Verwaltung genommen. Als nun der Vertrag mit der Gasanstaltsgesellschaft ablief, zögerten auch die Reichenbacher Stadtväter nicht länger,
einen gleichen Schritt zu tun. Am 20.
Juni war bereits der Ankauf des
Gaswerkes zum Preise von 250 000 Mark
beschlossen worden, und am 1. Oktober
ging das Unternehmen in die städtische Verwaltung über. Als Leiter wurde der
Direktor Vaupel aus Gnesen berufen. Ihm verdankt Reichenbach zu einem wesentlichen Teil
den umfassenden Ausbau des Werkes, das heute nicht nur Reichenbach, sondern auch mehrere andere Orte des Kreises versorgt.
Die
Stadtverordnetenwahlen im Herbst des
Jahres standen im Zeichen eines außerordentlich heftigen Wahlkampfes zwischen bürgerlichen
und Arbeitervertretern. In der Stichwahl unterlagen Letztere nur knapp. Am 1. Dezember 1907 bildete sich ein Mieterverein,
wohl eine Folgeerscheinung des Zusammenschlusses der Hausbesitzer. Zwischen
beiden Wirtschaftsgruppen entspannen sich später mannigfache Interessenkämpfe,
zumal schon damals die Wohnungsnot trotz reger Bautätigkeit ständig stieg.
Das Jahr 1908 blieb arm an Geschehnissen, die für
die Geschichte der Stadt von besonderer Bedeutung sind. Aus dem Rahmen der üblichen
Vereinsfeiern trat in der Faschingszeit das am 23. Februar veranstaltete 35-jährige
Stiftungsfest der Freiwilligen Feuerwehr heraus. Baumeister Georg Klatt, der rührige Brandmeister
der Wehr, bewies mit diesem gelungenen Fest einmal wieder, dass er nicht nur
ein tatkräftiger Führer seiner wackeren Schar im Ernstfalle war, sondern auch
in Scherz und Witz stets „der erste an
der Spritze“ sein konnte. Mit schönen, warmen Tagen hielt das Frühjahr seinen
Einzug, aber ein Hagelschlag am 13. Mai vernichtete manche Hoffnung auf eine
gute Ernte. Hagelkörner bis zur Größe eines Taubeneis richteten in der Stadt
viel Schaden an. Die im Juni
abgehaltene Landtagswahl brachte trotz aller Bemühungen der in Reichenbach zahlreich ansässigen
Anhänger liberaler und sozialistischer Bestrebungen einen Sieg des konservativen
Kandidaten, eine Folge des damals in Preußen
noch bestehenden Dreiklassenwahlsystems.
Mit dem 25. Kreiskriegerverbandsfest am 16. August fiel die Einweihung des Denkmals für die Gefallenen von 1866 auf dem katholischen
alten Friedhof am Schweidnitzer Tor
zusammen. Deutschen und österreichischen Kriegern wurde dieses Denkmal gemeinsam
gesetzt, und Offiziere der benachbarten Donaumonarchie wohnten den
Feierlichkeiten bei. Inzwischen war neben der neuen Peilebrücke das mit allen
neuzeitlichen Einrichtungen ausgestattete Hotel
„Kaiserhof“ erstanden, dessen
Einweihung am 6. Oktober stattfand.
Der Bau ist ein Werk der einheimischen Firma Robert Klatt. Besitzer der Gaststätte ist noch heute der Hotelier Wilhelm Winkler. Neben der
altehrwürdigen „Krone“ am Ringe ist
der „Kaiserhof“ heute der bevorzugte
Aufenthaltsort alter auswärtigen Gäste. In der hier geschilderten Zeit wirkten
sich die Absatzstockungen, die in der heimischen Textilindustrie eingetreten
waren, auch auf die städtische Entwicklung in schädlichem Sinne aus.
Zahlenmäßig trat dieser Umstand in der geringen Bevölkerungszunahme in Erscheinung.
Am Jahresschlusse war die Einwohnerzahl gegen die Vorjahre nur um ein Geringes
gestiegen. Sie betrug 16 350
Bewohner.
Mit einem
Freudentage für die katholisch Kirchengemeinde hielt das Jahr 1909 seinen Einzug. Am 14. Januar erfolgte die Einweihung des katholischen Waisenhauses an der Friedrichstraße, das nach seinen hochherzigen
Begründern „Rummler-Beiler-Stiftung“
benannt ist. Das Gebäude wurde auf den Grundmauern des historischen Schleiersteins errichtet. Unerwartet traf die Reichenbacher Gebirgsfreunde und darüber
hinaus alle an der Erschließung der heimischen Berge beteiligten Kreise ein schwerer
Schlag. Am 21. Mai 1909 wurde Schulrat Tamm in den Bergen, unweit der „Forelle“ in Steinkunzendorf, tot aufgefunden. Ein Herzschlag hatte den
allbekannten und wertgeschätzten Führer der Gebirgsvereine aus seinem schaffensreichen
Leben gerissen, nachdem er 25 Jahre lang
im Dienste zahlreicher gemeinnütziger Bestrebungen tätig gewesen war. Seinem
Andenken ist ein schlichter Stein an der Stelle seines Hinscheidens geweiht,
der am 19. September errichtet wurde.
Er verkündet dem Wanderer: „Hier verschied
am 21. Mai 1909 Schulrat Richard Tamm, ein edler Mensch und Freund der Berge.“ Kurze
Zeit später, am 9. Juni, verstarb Pastor Stier, der seit 1882 in der Reichenbacher evangelischen
Gemeinde gewirkt hatte.
Der Sommer dieses Jahres brachte wieder
mannigfache Veranstaltungen. Aus ihrer Zahl sei das erste größere Fußballspiel zwischen zwei Mannschaften
aus Reichenbach und Freiburg erwähnt, das am 20. Juni auf dem als Sportplatz
benutzten Viehmarkt an der Breslauer
Straße vor einer ansehnlichen Zuschauermenge stattfand. Der Sieg blieb
damals bei den Gästen, bald aber sollte sich dieser neue Sportzweig auch in Reichenbach zu großer Blüte entwickeln, denn die heranwachsende Jugend betätigte sich in ständig steigendem Maße in
allen Arten der Leibesübungen. Einen neuen Beweis hierfür lieferte das 19. Gaufest des Zobtenturmgaues, das am 1. und 2. August in der Stadt begangen
wurde. Nach einem Fackelzug und Festausmarsch boten die Wettkämpfe und
Schauübungen von etwa 1000 Turnern
ein prächtige. Als der Herbst nahte, kam noch einmal Trauer über die
ganze Stadt. Am 9. Oktober verstarb
im besten Mannesalter der Bürgermeister Koslik.
Mit seinem nahezu zwanzigjährigen Wirken ist die neuzeitliche Entwicklung Reichenbachs aufs Engste verknüpft. Groß
war die Schar der Trauergäste, die dem im Rathaussaal aufgebahrten Toten die letzten
Ehren erwiesen, endlos schien der Trauerzug, der ihm das Geleit zur letzten
Ruhestatt gab. Bürgermeister Koslik
hat viel für Reichenbach getan. Er
verband mit einem klaren Blick einen starken Willen und ein großes
Verwaltungsgeschick. Sein Andenken ist in der schon zu seinen Lebzeiten nach
ihm benannten Koslikstraße verewigt.
Als man am 19. November wieder einmal zu
Stadtverordnetenwahlen schritt, errang die Sozialdemokratie
infolge Uneinigkeit der anderen Parteien in der 3. Wählerabteilung einen durchschlagenden Erfolg. Ihre Kandidaten wurden sämtlich gewählt. Erstmalig zogen
Vertreter der Arbeiterschaft in das Reichenbacher
Stadtparlament ein. Auch in anderer Weise war der Zusammenschluss der
werktätigen Bevölkerung von Erfolg begleitet. Am Schlusse des Jahres 1909 wurden vom Bauverein für Arbeiterwohnungen
12 Einfamilienhäuser fertiggestellt,
die dem fühlbaren Mangel an Kleinwohnungen wenigstens teilweise abhalfen. Die Wasserversorgung der Stadt war nach
jahrelangen, kostspieligen Bohrversuchen durch Erschließung neuer Adern auf Bertholdsdorfer Gelände endlich gesichert
worden. Längere Zeit war erwogen worden, gemeinsam mit Langenbielau im Gebirge eine Talsperre
zur Wassergewinnung zu errichten.
Der Kaufmännische Verein hatte in den
letzten Jahren einen Fonds zum Bau
eines Eigenheims angelegt. Diesem
Grundstock floss nun die Spende des Bankhauses
Weiß zu, weil die Errichtung des städtischen Schwimmbades in der vorgesehenen Zeit nicht zur Ausführung gekommen
war. Das Baukapital vergrößerte sich außerdem durch zahlreiche Zeichnungen von freiwilligen Beiträgen
rasch, so dass schon am Ende des Jahres 1908
der Entschluss des Vereins reifte, mit dem Bau bald zu beginnen. So entstand im
nächsten Jahre an der Feldstraße das Kaufmännische Vereinshaus. Das schöne
Gebäude mit seinen behaglichen und vornehm ausgestatteten Räumen, umschlossen von
einem schattigen Garten, wurde nach dem Entwurf des Architekten Asmus von der Baufirma Robert Klatt ausgeführt und am 19. Januar 1910 seiner Bestimmung
übergeben. Seitdem sah es manche gastliche Feier in seinen Mauern. Im Februar entbrannte der Kampf um das
allgemeine, gleiche und geheime Wahlrecht für Preußen auch in Reichenbach
mit großer Schärfe. Vor allen anderen politischen Richtungen war es die in der
Stadt stark vertretene Sozialdemokratische
Partei, die sich dafür einsetzte. Sie veranstaltete am 13. Februar eine große Versammlung in dem Gasthof „Zum schwarzen Bären“ in der Niederstadt, bei der als Redner der
bekannte Parteiführer Franz Feldmann
auftrat. Nach Schluss der Kundgebung begaben sich über 500 Teilnehmer in geschlossenem Zuge in die Oberstadt. Es kam trotz gehegter Befürchtungen aber zu keiner
Störung der öffentlichen Ordnung, vielmehr zerstreuten sich die Demonstranten,
ohne den Ring zu betreten.
In der
Stadtverwaltung wirkte in dieser Zeit anstelle des verstorbenen Bürgermeisters
der Assessor Peikert als Behördenoberhaupt.
In seine, wenn auch kurze, Amtszeit fallen mehrere wichtige Maßnahmen der
Stadtverwaltung. Peikert ist heute Oberbürgermeister in der Nachbarstadt Schweidnitz. So wurde auf seine Anregung
im zeitigen Frühjahr der Bebauungsplan
für das neue Bahnhofsviertel festgelegt
und dabei ein Platz für das zukünftige Stadtbad
bestimmt, das ursprünglich nur für Wannen-
und Heilbäder vorgesehen war. Auch das Bahnprojekt Heidersdorf—Schweidnitz mit einer Abzweigung von Langseifersdorf nach Reichenbach stand wieder im Brennpunkt lebhafter
Erörterungen. Beide Vorhaben vereitelte allzu bald der Weltkrieg.
Zahlreich waren
die Bewerbungen um den Bürgermeisterposten gewesen. Am 23. März wählten die Stadtverordneten einstimmig den Bürgermeister Steuer zum Stadtoberhaupt. Als er am 9. Juli sein Amt antrat, war gerade ein
verdienstvoller Bürger Reichenbachs zur ewigen Ruhe gebettet worden: Justizrat Gallwitz, ein Bruder des später
im Weltkriege als Heerführer bekannt
gewordenen Artilleriegenerals. Er hat sich um die Entwicklung der Freiwilligen Feuerwehr und um den Ernsdorfer Kriegerverein, daneben auch
als Patronatsvertreter bei der katholischen Kirche und als Mitglied des
Kreisausschusses bleibende Verdienste
um das öffentliche Wohl erworben. Nach dem Beispiel anderer Städte war in
Reichenbach am 20. Juli ein Verkehrsverein gegründet worden, der
neben der Erfüllung anderer Werbeaufgaben vor allem bestrebt war, durch
zugkräftige Veranstaltungen das Interesse auf die Eulengebirgsstadt zu lenken. Schon am 15. August gelang ihm ein großer Wurf. Viele Tausende strömten nach
dem Gelände an der Bertholdsdorfer Straße,
um den Lenkballon „Parseval“ zu sehen,
der nach mehreren Schleifenfahrten über der Stadt dort glatt landete und gebührend
bestaunt wurde. Weniger Glück hatte der Verein mit einem Flugtag am 3. Oktober.
Von den erwarteten zwei Flugmaschinen erschien nur der Eindecker des Aviatikers Heidenreich.
Seine Leistungen waren recht mäßig, denn die Flugzeugtechnik stellte damals
noch in den Anfängen. Es ist deshalb zu verstehen, wenn die nicht sehr
zahlreich erschienenen Zuschauer unbefriedigt den Platz verließen. Der Verkehrsverein
aber erlitt bei dieser Veranstaltung erhebliche geldliche Einbuße und trat
danach lange Zeit nicht mehr mit größeren Unternehmungen vor die Öffentlichkeit.
Erst nach dem Kriege lebten seine Bestrebungen in dem heute bestehenden „Verkehrsamt Eulengebirge“ wieder segensreich
auf.
Die Hilfe der Feuerwehr
war am 7. September erforderlich, als
wieder einmal ein mächtiges Hochwasser Reichenbach
heimsuchte. Zahlreiche Gehöfte längs der Peile
wurden überschwemmt. Im neuen Hotel „Kaiserhof“
standen Küchen und Keller unter Wasser, das nach dem Sinken der Flut mühsam
herausgepumpt werden musste. Am Ende des Jahres ergab die Volkszählung 16 369 Einwohner. Das war nur ein
mäßiger Fortschritt, aber er findet seine Erklärung in den unsicheren Verhältnissen auf
dem Arbeitsmarkt in der Textilindustrie, die bei ständigen Lohnkämpfen und
unter dem Wettbewerb des Auslandes schwere Zeiten durchmachte. Sie erreichten im Sommer des folgenden Jahres ihren
Höhepunkt.
Unter einmütiger
Teilnahme der Bürgerschaft war am 5. März
1911 das fünfzigjährige Bestehen des Männerturnvereins
der Oberstadt gefeiert worden; aber
bald traten Ereignisse ein, die unter einem großen Teil der Einwohner
Meinungsverschiedenheiten hervorriefen. Bekanntlich war die höhere Töchterschule einige Jahre zuvor
in das neue Gebäude übergesiedelt, das von der Stadt an der Frägerstraße (Fraegerstraße) erbaut
worden war. Nach langen Kämpfen, die im Stadtparlament
nicht minder heftig als in der Öffentlichkeit geführt wurden, entschloss man sich
im folgenden Jahre zur Umwandlung in eine höhere
Mädchenschule. Aus ihr entwickelte sich nach dem Kriege das Lyzeum, bis dann in jüngster Zeit
der Ausbau in ein Oberlyzeum
erfolgte, wovon noch an anderer Stelle die Rede sein wird.
Festtage für die
katholische Einwohnerschaft waren der 10.
und 11. Juni. Der Kardinal Fürstbischof
Dr. Kopp weilte an diesen Tagen in der Stadt zu Besuch. An seiner
feierlichen Begrüßung beteiligten sich neben den Vertretern der Kirche auch die
Mitglieder des Magistrats. Für die
evangelischen Gemeindemitglieder wurde das Jahr 1911 gleichfalls von besonderer Bedeutung. Am 13. August war die Einweihung des neu geschaffenen Gemeindesaales in der Niederstadt erfolgt.
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Die evangelische
Pfarrkirche
erbaut 1797, Ansicht von der Poststraße
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Luther—Denkmal errichtet 1911
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Im Herbst aber ging ein Werk seiner
Vollendung entgegen, mit dessen Zustandekommen sich die Öffentlichkeit schon
Monate zuvor lebhaft beschäftigt hatte. Auf Grund eines Aufrufs war im
vorhergegangenen Jahre ein Grundstock zur
Errichtung eines Lutherdenkmals geschaffen worden, der sich durch
zahlreiche Spenden rasch vergrößerte, sodass nun zur Einholung von Entwürfen
für das Standbild geschritten werden konnte. Die Wahl fiel auf die Schöpfung
des Bildhauers Schulz aus Breslau. Damit war die Denkmalsfrage schnell
und glücklich gelöst worden. Unvorhergesehene Schwierigkeiten bereitete aber
die Beschaffung eines geeigneten Platzes zu seiner Aufstellung. Es war nach dem
Entwurf vorgesehen, dass der Reformator auf das Portal der Kirche zuschreiten sollte.
Der Antrag der evangelischen Kirchgemeinde, für das Denkmal einen Platz auf dem
Ringe gegenüber dem Eingang in die Schweidnitzer
Straße herzugeben, führte im Stadtparlament und in der Öffentlichkeit bald
zu unerquicklichen Auseinandersetzungen, denn unmittelbar neben dem gedachten Ort
stand seit nahezu 200 Jahren die Statue des St. Nepomuk. Bei dieser
Gelegenheit traten die konfessionellen Gegensätze stark in den Vordergrund.
Daneben wurde noch geltend gemacht, dass ein zweites Denkmal die Übersichtlichkeit
und Verkehrssicherheit des Marktplatzes
beeinträchtigen würde, so dass schließlich die Forderung erhoben wurde, auch
das Nepomukstandbild vom Ringe fortzuschaffen. Dem unerfreulichen
Streit machte schließlich die katholische
Gemeinde ein Ende, die sich bereit erklärte, die Statue des Heiligen von
ihrem bisherigen Platz zu entfernen und sie auf kirchlichem Grund und Boden
aufzustellen. Hingegen musste sich die Stadt verpflichten, die Kosten der
Verlegung zu tragen und die Gewähr dafür zu übernehmen, dass künftig kein
anderes Denkmal auf dem Ringe Aufstellung
fand. Als Standort für das Lutherdenkmal
wurde ein Platz auf der Stadtpromenade
an der Breslauer Straße gewählt. Am 31. Oktober 1911 erfolgte dann unter starker
Beteiligung aller evangelischen Kreise die feierliche Enthüllung. Das Standbild
ist von großer künstlerischer und monumentaler Wirkung. Auf einem steinernen Sockel
schreitet die Gestalt des Reformators mit weit ausgreifendem Schritt der Kirche
zu, den Hammer in der Rechten, das Pergament mit den Thesen in der Linken
haltend. Aus dem breiten, starkknochigen Gesicht ist der Blick fest auf sein
Ziel gerichtet. Dem Ganzen gibt das Grün der Promenade einen wirkungsvollen
Hintergrund, und man kann wohl heute sagen, dass der gewählte Standort sich als
günstiger erwiesen hat als der ursprünglich erstrebte Platz inmitten des
Verkehrslärms auf dem Ringe. Das Standbild
des heiligen Nepomuk aber fand zu
gleicher Zeit seinen neuen Platz neben dem Begräbniskirchlein
an der Gabelung der Schweidnitzer und
Feldstraße, womit es an Wirkung
gleichfalls nichts eingebüßt hat.
Aus dem Jahre 1911 ist noch erwähnenswert die am 27. Oktober vorgenommene Einweihung der Landwirtschaftschule, die
in besonderen Räumen der evangelischen Volksschule
I untergebracht wurde. Um den Aufbau der Fachschule erwarb sich deren erster
Direktor Josef Grützner besonderes
Verdienst. Bei den Stadtverordnetenwahlen
am 23. November entbrannte von Neuem der
Kampf zwischen den bürgerlichen Parteien
und der Sozialdemokratie. Diesmal
trugen erstere infolge ihres einmütigen Zusammengehens den Sieg davon. Umgekehrt
war jedoch das Ergebnis bei den Reichstagswahlen
im Januar 1912. Hier siegte bei der
Stichwahl im Bezirk Reichenbach-Neurode
der Kandidat der Sozialisten, der Schneidermeister August Kühn aus Langenbielau.
Ebenso errang der auch in Reichenbach
häufig hervorgetretene Sozialistenführer Franz
Feldmann im Nachbarkreise Schweidnitz-Striegau
den Wahlsieg. Am 10. Juni wurden die
beiden neuen Pfarrhäuser an der Feldstraße
ihrer Bestimmung übergeben.
Umfangreiche Vorbereitungen
waren für eine würdige Feier der Schlacht
am Fischerberge getroffen worden, die dort vor 150 Jahren stattgefunden hatte. Der Verlag des „Reichenbacher Tageblattes" hatte
aus diesem Grunde ein Preisausschreiben für ein Heimatfestspiel erlassen. Der
Preis wurde nach einstimmigem Urteil dem in Steinkunzendorf
wohnhaften Lehrer und Heimatdichter Rücker
zuerkannt. Sein Festspiel wurde bei der Gedenkfeier in Reichenbach am 11. August mit vollem Erfolge aufgeführt.
Es begann mit einer sinnigen Darstellung der Bergheimat und ihrer Reize,
leitete zu prächtigen Szenen aus dem Lagerleben nach der Schlacht über und schloss
mit einer Huldigung an Preußens
großen König. Ein Festschießen und ein
Konzert vervollständigten die aus
weitem Umkreis besuchte Feier, bei der auch viele Reichenbacher Vereine mitwirkten.
Während des hier
geschilderten Jahres waren die Arbeiten an der Kanalisation der städtischen Abwässer rüstig fortgeschritten. In
der Niederstadt war der Bau der
zugehörigen Kläranlage in Angriff
genommen worden. Schon schien es, als sollte mit dem Jahre 1912 ein weiterer Zeitabschnitt der bisher in stetiger Bahn
verlaufenen Entwicklung der Stadt zu Ende gehen, als im Herbst sozusagen über Nacht ein Ereignis eintrat, das für ganz Reichenbach eine gewaltige Erschütterung
brachte und den Fortbestand vieler Geschäfte ernstlich bedrohte. Am 25. Oktober stellte das über 100 Jahre alte Bankhaus von F. W. Weiß plötzlich die Zahlungen ein. Verfehlte und
waghalsige Spekulationen, unvorsichtige Wechselgeschäfte und Kreditgewährungen hatten
den von niemand erwarteten Zusammenbruch herbeigeführt. Nun setzte ein allgemeiner
Sturm der Sparer auf die Kassen der beiden anderen Privatbanken von Friedrich von Einem und von W. F. Hoffmann ein. Das letztgenannte
Bankhaus erwies in diesen kritischen Tagen seine Zahlungsfähigkeit. Dadurch gewann
es rasch das Vertrauen seiner Kundschaft wieder und ging ohne Schaden aus dem
großen Reichenbacher Bankkrach
hervor, der bald überall das Tagesgespräch bildete. Dagegen ereilte das Bankhaus Friedrich von Einem schon nach
wenigen Stunden das unerbittliche Schicksal. Es musste seine Zahlungen ebenfalls
einstellen und geriet in Konkurs. Die
Verluste gingen in die Millionen. Mehrere der kleineren Industrieunternehmen in
Reichenbach und Langenbielau wurden von diesem Bankerott in Mitleidenschaft
gezogen. Nicht besser erging es zahlreichen Geschäftsleuten und vielen kleinen
Sparern. Ungeheuer war die Erbitterung, als nach und nach der riesenhafte
Umfang der Schuldsummen bekannt wurde, denen keine ausreichende Deckung gegenüberstand.
Erst nach Jahren waren die schlimmsten Folgen des Bankkrachs überwunden, der seinen
äußeren Abschluss in dem Urteilsspruche der Gerichte fand. Als zehn Jahre später
der verlorene Krieg die große Geldentwertung über ganz Deutschland brachte, bewirkten die allgemeinen Vermögensverluste,
dass der Bankskandal von 1912 rasch
vergessen wurde. In den Annalen der Stadt aber musste dieser Bankzusammenbruch seinen
Platz finden, weil er zu einer Zeit, in der jedermann seine Spargelder sicher
wähnte, die Existenz vieler fleißiger Bürger schwer gefährdete und in einigen
Fällen sogar vernichtete.
Bereits im Dezember 1912 war der Landrat von Seidlitz nach zwölfjähriger
Tätigkeit aus seinem Amte geschieden. Am 25.
Januar 1913 wählte der Kreistag
an seiner Stelle den bei der Kreisverwaltung bereits früher tätig gewesenen
Regierungsassessor Graf von
Degenfeld-Schonburg, der nach seiner am 17.
März erfolgten Ernennung zum Landrat
das Amt als Oberhaupt des Kreises antrat und noch heute an dieser Stelle wirkt.
In die Zeit seiner Verwaltung fallen die schweren Kriegs- und Nachkriegsjahre mit
ihren Lebensmittelnöten, Unruhen und wirtschaftlichen Erschütterungen. Die
ferneren Schicksale der Stadt sind, wie der weitere Verlauf ihrer Geschichte
ergeben wird, mit dem Wirken dieses Mannes eng verknüpft.
Als das Jahr 1913 in ganz Deutschland zum Gedenken an die Befreiungskriege aufrief, schickte
man sich auch in Reichenbach an, die
Erinnerung an jene große Zeit in gebührender Weise zu feiern; waren doch in seinen
Mauern die geschichtlich bedeutsamen Bündnisse zustande gebracht worden, die
zum Sturz der napoleonischen Herrschaft
führten. Mit Stolz konnte die Stadt auf die Tage zurückblicken, in denen der
geniale Staatsmann Freiherr vom Stein
und die Freiheitsdichter Arndt, Körner
und Schenkendorf hier vor hundert Jahren für die Befreiung des Vaterlandes
gewirkt hatten. Allgemein war deshalb die Beteiligung der Einwohnerschaft an
der Feier, die von der Schützengilde
am 20. Juli veranstaltet wurde. Nach
einer Kranzniederlegung am Kriegerdenkmal
auf der Totenschanze bewegte sich ein Festzug durch die Straßen der Stadt,
wie ihn diese schon seit Langem nicht mehr gesehen hatte. Historische Gruppen wechselten
in bunter Folge mit Festwagen, die von den verschiedenen Berufsständen und
Vereinen gestellt wurden. Es war das letzte große Volksfest in der mehr als
vierzigjährigen Friedenszeit, die schon ein Jahr später durch den gewaltigsten
aller Kriege jäh ihren Abschluss finden sollte.
Der September stand im Zeichen der schlesischen Kaisermanöver, deren
einleitende Kampfhandlungen sich in der nächsten Umgebung der Stadt abspielten.
Bei dieser Gelegenheit erhielt sie auch den Besuch eines Fliegers, der die hier
von der Manöverleitung markierte Luftschiffhalle für einen Zeppelin erfolgreich
angriff. Kurz zuvor war im Sommer das
neue katholische St. Josef-Krankenhaus an
der Beutlerstraße vollendet und seiner Bestimmung übergeben worden, in das
jetzt die seit 50 Jahren in Reichenbach
wirkenden Grauen Schwestern übersiedelten.
Große Sorge bereitete den Stadtvätern schon damals der Bahnübergang an der Peterswaldauer
Straße, der für den gesteigerten Verkehr ein sehr lästiges Hemmnis geworden
war, denn die neu geschaffene Unterführung
für den Fußgängerverkehr erwies sich als unzureichende Abhilfe. Der Plan, an
dieser Stelle eine Durchfahrt für den
Wagenverkehr vermittels eines Tunnels zu schaffen, musste infolge der
Ereignisse der nächsten Jahre aufgegeben werden.
Froh und
verheißungsvoll begann das denkwürdige Jahr 1914.
Am 21. Februar fand sich wieder
einmal alles zum Herrenabend der
Freiwilligen Feuerwehr im Saale der „Sonne“
zusammen. Im Mittelpunkt der Darbietungen stand die komische Oper „Der Onkel aus Amerika“. Unter Blitz und
Donnerrollen erlebten die Zuschauer den Bankkrach; der üble Duft der neuen Kläranlage
war durch „Klärchen“, das Versuchskaninchen,
in zwerchfellerschütternder Weise verewigt worden. Schier endloser Beifall
lohnte Alphons Paul, der Verfasser
des Stückes und Schöpfer der bereits historisch gewordenen Figur des „Herrn Hitschfeld“. Noch ahnte damals
niemand, dass es seine letzten ergötzlichen Scherze sein, dass zwischen diesem
und dem nächsten Herrenabend viele schwere
Kriegs- und Unglücksjahre liegen sollten. Noch rechnete alles auf eine ruhige
und entwicklungsreiche Zukunft. Im März
ging die Stadtverwaltung an die Erschließung von Siedlungsgelände in der Frankensteiner Vorstadt. Die Feuerwehr schaffte
im Mai die erste Motorspritze an. Das historische Sadebeckhaus Ring Nr. 51 wurde neuzeitlich ausgebaut. Als bei dieser
Gelegenheit das alte, prächtige Steinportal
entfernt werden musste, machte es sein Besitzer der Stadt zum Geschenk. Das
Portal fand später seine Aufstellung auf dem Mittelringe am Durchgang zwischen
den Häusern Nr. 4 und 5 und ist noch
heute eine Zierde dieser Ringfront. Im Verlage des „Reichenbacher Tageblattes" trat am 1. Juli 1914 ein Wechsel ein. Buchdruckereibesitzer Carl Maetschke übernahm den
Zeitungsverlag, der sich noch heute in seinem Besitz befindet. Seiner rastlosen
Wirksamkeit verdankt das „Tageblatt“ seinen
neuzeitlichen Ausbau und die große Verbreitung, die weit über den Kreis Reichenbach hinausreicht.
Ein seltenes Schauspiel löste in der Frühe des 21. Juni die Einwohnerschaft auf die
Dächer der Häuser, denn 25 Flieger passierten
beim Ostmarkenfluge die Stadt. Es war ein prächtiges Bild, als die Riesenvögel
mit gewaltigem Dröhnen und Surren am Himmel dahinzogen, ein Symbol von Deutschlands Macht und Größe. Nur wenige
Wochen und Tage noch, dann sollte die Mordtat eines Fanatikers unten im fernen Bosnien ein Kriegsgewitter zusammenballen,
das bald unter furchtbarem Donner die ganze Welt in Waffen erstarren ließ.
Rekonstruktion und Anpassung an neue Rechtschreibregeln: Marcin Perliński (2025)